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Was sich rund um den Rückzug der USA abspielt, weist Parallelen zu den Vorgängen in Vietnam in den 1970ern auf.
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Nun, da der vollständige Abzug der US-Truppen aus Afghanistan immer näher rückt, wird dieser Rückzug häufig in vielen Kommentaren mit der (buchstäblichen) Flucht der US-Streitkräfte aus Südvietnam in den 1970ern verglichen wird. Umso mehr, als die Taliban, die ja das eigentliche Ziel der militärischen Intervention der Nato (und in der Tat der USA) in Afghanistan waren, schnell die Kontrolle über alle wichtigen Teile des Landes übernehmen, inklusive der Grenzübergänge zu mehreren Nachbarstaaten, einschließlich Iran. In Washington werden derartige Vergleiche freilich erwartungsgemäß zurückgewiesen, obwohl sie durchaus auf der Hand liegen. Es ist so gut wie sicher, dass später, nach dem völligen Rückzug der Nato, die Taliban an die Macht kommen werden, so wie damals die Kämpfer aus Nordvietnam den Süden übernahmen, ihn mit dem Norden vereinten und so das heutige Vietnam schufen.
Sowohl in Afghanistan als auch in Vietnam ging dem Abzug ausländischer Truppen ein langjähriger Krieg voraus. In Afghanistan wurden Schätzungen zufolge mehr als 70.000 Afghanen und Pakistani getötet, und fast die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. In Südvietnam wurden alle, die auf irgendeine Art und Weise mit den Amerikanern zusammengearbeitet hatten, in "Umerziehungslager" gesteckt. In Afghanistan fürchten jene, die mit den Nato-Truppen kooperiert haben - und sei es nur als Übersetzer -, um ihr Leben, wenn die Taliban wieder die Herrschaft übernommen haben. In Südvietnam trieben Hunderte wochenlang auf kleinen Booten die Küste entlang, in der vergeblichen Hoffnung, dass die Kriegsschiffe ihrer amerikanischen Freunde plötzlich am Horizont auftauchen und sie retten würden. Sie kamen nie.
Was war das Ziel der Intervention in Afghanistan?
In Afghanistan, das Beispiel von Südvietnam vor Augen, machen sich jene, die mit ausländischen Kräften kooperiert haben, keine Illusionen. Das hat bereits eine Flüchtlingswelle in die Nachbarländer ausgelöst, und diese Welle wird zweifellos auch Europa erreichen. Der Krieg der Nato in Afghanistan hat ganze 20 Jahre gedauert - neben jenem in Vietnam war es der längste Krieg in der Geschichte der USA. Und Präsident Joe Biden hat zwar bisher Sätze wie "Mission erfüllt", wie sie typisch für George Bush waren, vermieden, doch auch seine abgemilderte Variante "Ziele erfüllt" entspricht nicht der Wahrheit.
Wenn nämlich das Ziel darin bestand, den Terrorismus zu bekämpfen und Osama bin Laden zu eliminieren, dann wäre nach der Tötung des Al-Kaida-Führers und der Zerschlagung seiner Organisation der Zeitpunkt gekommen, Afghanistan zu verlassen. Damals war Barack Obama US-Präsident und Biden sein Vize. Wenn jedoch das Ziel war, die Taliban zu zerschlagen, dann war dieser Krieg in Afghanistan ein totaler Flop. Wobei die wahren Verlierer nicht die USA sind - der größte Verlierer in diesem unseligen Krieg ist die afghanische Bevölkerung. Und ein Flop war dieser Krieg, kein Zweifel. Nicht nur, weil wie Zerschlagung der Taliban gescheitert ist, sondern in erster Linie, weil die Taliban - so wie auch Bin Laden und Al-Kaida - "Kinder Amerikas" waren: von den USA ins Leben gerufen und finanziell und militärisch unterstützt, um den Sowjets in Afghanistan das Leben schwer zu machen.
Ja, die Sowjets hatten 1979 in Afghanistan interveniert, in der Sorge, die ihnen nahe Regierung des sonst blockfreien Landes könnte sich auf die Seite des Westens schlagen. Nach zehn Jahren Kämpfen, in denen die Amerikaner in Afghanistan ein sowjetisches Südvietnam durchspielen wollten, sahen sie ein, dass die Intervention keinen Sinn hatte, und zogen sich geordnet unter ihrem kommandierenden General, der als Letzter die Grenzbrücke überquerte, zurück (im Gegensatz zu den Amerikanern, die seinerzeit in Vietnam mit Helikoptern vom Dach der US-Botschaft in Saigon flüchteten und nun in Afghanistan ihren größten Luftwaffenstützpunkt Bagram im Schutz der Nacht evakuiert haben, jedoch behaupten, die afghanischen Regierungstruppen im Voraus darüber informiert zu haben - jene Truppen, die man angesichts der Situation vor Ort besser die Truppen der Regierung in Kabul nennen sollte).
Es stimmt auch nicht, was US-Präsident Biden behauptet, wenn er sagt, der Zweck der US-Intervention in Afghanistan wäre nicht "Nation Building" gewesen. Im Gegenteil, eine grundlegende Reform der afghanischen Gesellschaft war etwas, das als eine der wichtigsten Aufgaben der Nato-Truppen betrachtet wurde, da die Taliban das Land zurück ins Mittelalter geführt hatten (was sie jetzt höchstwahrscheinlich erneut tun werden). Zugleich wird vergessen, dass die afghanische Gesellschaft bis zum Sturz von König Mohammed Zahir Schah eine relativ fortschrittliche war, jedenfalls in Bezug auf die Stellung der Frau in der Gesellschaft und auf das Bildungssystem.
Die Einbeziehung von Frauen im gesellschaftlichen Leben und die Bildungsmöglichkeiten für Mädchen werden nun als große Erfolge der Intervention ausländischer Kräfte eingeordnet - als ob es das nicht schon früher in dem Afghanistan gegeben hätte, das von genau diesen Kräften, die unter dem US-Deckmantel entstanden und erstarkt sind, zerstört wurde. Nach 20 Jahren Krieg ist das Land buchstäblich verwüstet, und das einzige Ergebnis dieser 20 Jahre, das Einzige, was vorangekommen ist, sind der Anbau von Mohn und der Schmuggel von Opium. Ich erinnere mich gut an ein Gespräch des damaligen kroatischen Präsidenten Stipe Mesic mit dem afghanischen Präsidenten Hamid Karzai, in dem sich dieser darüber beschwerte, dass die Amerikaner Druck auf ihn ausübten, die Mohnfarmen zu zerstören. Er sagte damals, dass er das weder wolle noch könne, weil ohne diese Einnahmequelle die Hälfte der Bevölkerung hungern würde.
Die Nato - ein verlängerterArm der US-Politik
Und noch eine Frage stellt sich, wenn man versucht, die Auswirkungen des US-Rückzugs aus Afghanistan zu analysieren: Die Intervention, kurz nach den 9/11-Terrorangriffen auf die New Yorker Twin-Towers, wurde als Intervention des Atlantik-Paktes konzipiert. Und nominell war sie das auch. Aber wenn man ehrlich sein will, dann muss man zugeben, dass die Nato (auch hier) als verlängerter Arm der US-Politik gehandelt hat. Und jetzt, 20 Jahre später, hat die Nato, sobald die USA ihre Entscheidung bekanntgegeben hatten, ihre Truppen zurückzuziehen, ebenfalls hastig den Beschluss gefasst, Truppen ihrer Mitgliedsländer aus Afghanistan abzuziehen.
Die Nato-Mitgliedstaaten sollten spätestens jetzt überlegen (falls sie es bisher nicht getan haben), was der eigentliche Zweck der Nato ist - eines transatlantischen Militärbündnisses, das sich als Marionette des Weißen Hauses erweist. Auch in Bezug auf die "begeisterte" Entsendung von Truppen an die Grenze zu Russland, um Europa sich auf die Verteidigung gegen "russische Aggression" vorzubereiten. Wem und welchem Zweck dient die Nato? Wem und welchem Zweck dient die Politik des gewaltsamen Umsturzes und/oder der Errichtung von Regimen in anderen Ländern? Wem und welchem Zweck dient die Politik des Aufzwingens bestimmter sozialer (und wirtschaftlicher) Rahmenbedingungen für Länder, die ihren eigenen Weg gehen wollen? Wem und welchem Zweck dient die Fortsetzung der anti-russischen Hysterie - vor allem nach dem Treffen Bidens mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, das doch eigentlich ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen ihren beiden Ländern aufschlagen sollte?
Was Afghanistan angeht - um zum Ausgangspunkt zurückzukehren -, so ist Bidens Aussage, die erneute Machtübernahme der Taliban wäre "nicht unbedingt unvermeidlich", pure Heuchelei. Es wird nicht lange dauern, bis die Realität sie widerlegt. Dass die USA aber auch in Zukunft bemüht sein werden, Einfluss auf Afghanistan zu nehmen, kann man aus der Tatsache herauslesen, dass sie versuchen, einige Verbündete in der Region zu einer Art Beschützern für die Regierung in Kabul zu machen. Der Begriff "Stellvertreterkrieg" ist ja nicht unbekannt.
Fazit: In Afghanistan wird die Welt eine Art Wiederholung dessen miterleben, was seinerzeit in Vietnam passiert ist. Déjà-vu nennt man so etwas. Und, nicht weniger wichtig: Die USA büßen durch eine solche Politik viel von ihrer Glaubwürdigkeit ein. Die Verbündeten der USA (die oft nur Befehlsempfänger sind) sollten über die Kosten einer solchen Allianz nachdenken und darüber, was sie wert ist. Und ob sich dieses Bündnis überhaupt lohnt.