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Ein Déjà-vu in Rot-Weiß-Rot

Von Johannes Schönner

Gastkommentare

Diskussionen über eine Impfpflicht - damals im Kampf gegen die Pocken - gab es in Österreich bereits vor 90 Jahren. Können wir für Corona etwas daraus lernen?


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Impfen oder nicht? Das wird immer mehr zur Gretchenfrage der aktuellen Corona-Politik. Vor genau 90 Jahren - im Jänner 1931 - gab es diese Diskussion bereits in Österreich, und es verdient durchaus Beachtung, sich die Vorgeschichte, den argumentativen Verlauf und die damaligen Konsequenzen zu vergegenwärtigen.

Ende der 1920er fanden immer wieder - meist lokal begrenzte - Pockenepidemien in Europa statt. Diese auch Blattern genannte Krankheit befiel den ganzen Körper, sie führte zu schmerzhaften Verunstaltungen und in schweren Fällen zum Tod. Und vor allem: Die Blattern waren extrem ansteckend. Seit Jahrhunderten waren sie eine der (medizinischen) Geißeln der Menschheit. Auch hochherrschaftliche Dynastien waren betroffen, so erkrankten auch mehrere Töchter Maria Theresias, und die erste Frau von Kaiser Josef II. starb sogar daran.

Also keineswegs eine "Insel der Seligen", als die sich Österreich zu jeder Zeit so gerne selbst sieht. Viel zu zögerlich und zu kompliziert gestalteten sich die politischen Abwehrmaßnahmen. In der Monarchie (Cisleithanien) gab es im Gegensatz zum Deutschen Reich keine gesetzliche Impfpflicht. Europas Staaten verfolgten in der Zwischenkriegszeit verschiedene Strategien, um mit den Pocken fertig zu werden. Im Deutschen Reich galt schon seit 1874 eine allgemeine Impfpflicht bei solch gefährlichen Krankheiten, gegen die ein Serum vorlag.

Nach dem Kollaps des Habsburger-Reiches 1918 behoben alle Nachfolgerstaaten mit Ausnahme Österreichs den offensichtlichen Mangel und beschlossen gesetzlich die Impfpflicht (die Gegner sprachen schon damals von Impfzwang) gegen Blattern: 1919 in der Tschechoslowakei und in Polen, 1923 in Italien und 1925 in Jugoslawien. Interessanterweise bestand sie in Ungarn schon zu Zeiten der Monarchie und existierte aufgrund zahlreicher ungarischer Gesetze (Übergangsregelungen teils bis weit in die Zwischenkriegszeit hinein) auch im Burgenland.

Impfpflicht wirkte

Die verfügbare Statistik zum Zeitraum 1929/1930 zeigt hier ein schonungsloses Bild: In Großbritannien stieg trotz modernem und großzügig ausgebautem Gesundheitssystem in den Jahren 1920 bis 1929 die Zahl der jährlichen Blatternfälle von 280 auf fast 20.000. Dies war ohne Zweifel auf die dortige Ablehnung jedes Impfzwangs zurückzuführen. Im selben Zeitraum gingen die Pockenfälle im Königreich Jugoslawien, das in Bezug auf die allgemeinen gesundheitlichen Verhältnisse damals offenkundig hinter Großbritannien zurückstand, infolge der eingeführten Impfpflicht stark zurück.

In Österreich war vor 1914 der allgemeine Impfzustand auch ohne eine Impfpflicht verhältnismäßig gut, nach dem Krieg verschlechterte er sich aber von Jahr zu Jahr. In der Steiermark etwa wurden 1928 nur 65 Prozent der 1927 Geborenen gegen Blattern geimpft. Die Gefahr einer Epidemie stieg folglich nach allen vorhandenen Berechnungsmodellen ab 1929/1930 stetig mit der sinkenden Zahl der durch die Impfung geschützten Personen.

Diese historischen Rahmenbedingungen ließen die Politik zumindest teilweise handeln. In Österreich stellte im Jänner 1931 die christlichsoziale Bundesratsfraktion mit der steirischen Fraktionsführerin und ersten Bundesratspräsidentin Olga Rudel-Zeynek den Antrag, "für bestimmte Gruppen oder bestimmte Personen eine Impfung beziehungsweise Wiederimpfung vorzuschreiben". Weiters sollte "jedes Kind in Österreich vor Vollendung seines ersten Geburtstages gegen Blattern geimpft und während seines Schulalters wiedergeimpft werden".

Im Herbst 1930 war kurz zuvor Johannes Schobers Regierung mit seinem "Bürgerblock" (Christlichsoziale, Landbund, Deutschnationale) gescheitert. Jeder suchte sich neue Allianzen. Die "nationalen" Parteien kündigten den Weg in die Opposition an, während die Christlichsozialen eine Annäherung an die Heimwehr suchten. Dies waren extrem fragile Bündnisse, während die Sozialdemokratie taktierte und die Schwächung der Christlichsozialen als Ziel definierte. Bei der Nationalratswahl im November 1930 erhielten sie dann die relative Stimmenmehrheit, fanden aber keinen Koalitionspartner.

Eine Übergangsregierung unter dem Christlichsozialen Carl Vaugoin scheiterte kurze Zeit später. Erst unter Otto Ender kamen Ende 1930 der "Bürgerblock" und die bisherigen Koalitionspartner einander politisch wieder näher, sodass eine gemeinsame Regierung möglich wurde. Eine politische Situation, die für ein so heikles (Rand-)Thema wie die Impfpflicht keinen Raum bot.

Erst von Nazis eingeführt

Der Antrag der Christlichsozialen wurde im Bundesrat nach parteiinternen Kontroversen zwar auf die Tagesordnung gesetzt, jedoch nicht zur Abstimmung gebracht. Von Sozialdemokraten und Deutschnationalen wurde in den jeweiligen Parteiorganen eine solche Verpflichtung wegen formaler Bedenken und wegen politischer Nichtbegründung schon im Vorfeld teilweise kritisch gesehen. Freilich gab es auch in diesen politischen Lagern Befürworter einer Impfpflicht, doch zu einer entschiedenen und offiziellen Parteilinie konnte man sich nicht durchringen.

Eine Impfpflicht gegen die Blattern wurde auch später im "Ständestaat" nicht als Gesetzestext formuliert, sondern erst 1938 nach dem "Anschluss" eingeführt, wobei das NS-Regime hier bemerkenswerterweise keineswegs einheitlich agierte. Ideologen um Heinrich Himmler vertraten die Auffassung, ein "gesunder deutscher Körper" würde mit dieser Krankheit fertig werden, und es führe zu einer "Immunität des ganzen Volkskörpers", während NS-Bürokratie und Militär längstens seit Kriegsbeginn einer vorbeugenden Immunisierung das Wort redeten. Im Krieg wollte man schließlich gesunde und einsatzfähige Soldaten. Bald nach dem Kriegsende wurde die Impfpflicht offiziell im neuen Österreich eingeführt, und die Pocken gelten seit den 1970ern als ausgestorben.

In Bezug auf die Covid-Impfung heute bietet diese Episode im Kampf gegen die Pocken keine wirkliche Entscheidungshilfe. Sie zeigt einzig eine politische Frage, die in Österreich scheinbar schwieriger zu beantworten ist als anderswo. Stattdessen sucht man bei uns eine Lösung durch politisches Abwarten.