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Die Publizistin Siba Shakib erhielt am Sonntag den Peter-Surava-Preis des PEN-Club Liechtenstein. 1998 hat der PEN-Club Liechtenstein diesen Preis in memoriam seines verdienten Mitgliedes Peter Surava alias Ernst Steiger geschaffen. Der Preis ist mit 25.000 Franken dotiert und wird alle zwei Jahre mit dem Ziel verliehen, das Andenken an Peter Surava zu bewahren und Menschen auszuzeichnen, die sich so wie er für Verfolgte, Entrechtete und Ausgebeutete einsetzen. 1999 wurde der Preis erstmals verliehen, und zwar an das "Writers-in-Prison-Committee" in London, 2001 an Rupert Neudeck, den Gründer und Leiter des Notärzte-Komitees Cap Anamur.
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"Ich hatte einen Traum, sagt Shirin-Gol. Ich habe geträumt, die Bomben, die länger als zwei Jahrzehnte auf unsere Häuser gefallen sind, seien keine Bomben, sondern Bücher. Ich habe geträumt, die Minen, die sie unter unsere Füße gepflanzt haben, seien keine Minen, sondern Weizen und Baumwolle."
Shirin-Gol, die dies sagt, ist die Protagonistin in Siba Shakib's Buch "Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen". In dem Augenblick, da sie dies sagt, weiß weder sie noch die Autorin, "dass bald wieder Bomben auf sie, auf Kabul, auf alle anderen Städte, auf ihr Land geworfen werden", Bomben, die der Bekämpfung des Terrorismus dienen sollen. Und: "An diesem Nachmittag wissen sie nicht, dass die Amerikaner zu ihrer Befreiung kommen werden. Dass viele von ihnen zum soundsovielten Mal in ihrem Leben alles zurücklassen und fliehen müssen.
Sie wissen an diesem Nachmittag noch nicht, dass ein paar von ihnen einige Monate später tot sein werden. Getroffen von den Bomben der Amerikaner, die gekommen sind, sie zu befreien."
Hunger und Krieg zwei Generationen lang
Sie konnten auch nicht wissen, dass zuvor ein paar Tausend Menschen in den Twin-Towers sterben würden, ehe die Amerikaner und ihre Verbündeten, versehen mit dem Mandat der UNO, in Afghanistan einmarschieren. Es ist der beinahe zynische und schreckliche Aberwitz der Geschichte, dass ausgerechnet die terroristischen Aktivitäten Osama Bin Ladens zur Befreiung des afghanischen Volkes vom Terror-Regime der Taliban führten, eines Volkes, das zwei Generationen lang - weitgehend ignoriert vom Rest der Welt - unter Krieg und Hunger litt.
Erst der 11. September und ein neuer Krieg lenkten die Aufmerksamkeit des reichen Westens auf dieses verarmte, vergessene Land.
Siba Shakib, die diesem Land und seinen Menschen ein publizistisches und literarisches Denkmal setzte und setzt, ist keine Afghanin, obwohl ihr Herz wie das einer solchen spricht. Sie stammt aus dem Iran, studierte und arbeitet in Deutschland. Bei den Dreharbeiten zu ihrem Film "Iran heute" lernte sie im Norden ihres Heimatlandes Afghanen kennen - die schon damals auf der Flucht vor militärischen Gewalten waren - und ist seither von diesen Menschen und deren Land fasziniert. Ihre publizistische Arbeit führte sie immer wieder dorthin. Dort ist sie immer wieder jener Frau begegnet, der sie den Namen Shirin-Gol gab, deren Leben und das ihrer Familienangehörigen sehr wohl den Stoff für eine Reihe aktueller Tragödien klassischer Dimension abgeben würde. Aber die abendländischen Autorenkollegen sind derzeit vorwiegend damit beschäftigt, in ihren Pseudo-Dramen davon zu erzählen, dass die Protagonisten darunter leiden, dass sie einander nichts zu erzählen haben und deshalb einander ohne ersichtliche Motive quälen.
Die Tragödie Afghanistans wird von den Betroffenen selbst zu erzählen sein. Dass ihnen dies möglich sein wird, hängt davon ab, ob es gelingt, ein taugliches Bildungssystem zu etablieren, welches sie, die zum Schweigen gebrachten, wieder ermuntert sich mitzuteilen, miteinander zu kommunizieren.
Hoffnungsschimmer
Freilich: es ist vieles besser geworden. Zumindest in den Städten. Die Wirtschaft erholt sich zögernd; da und dort eröffnen wieder neue Geschäfte, inmitten der Ruinen - die noch immer das Bild bestimmen - kommt langsam der Wiederaufbau in Schwung. Jeden Tag, so Shakib, verändert sich etwas.
Die Analphabetenrate in Afghanistan betrug um 1990 etwa 80 Prozent; dass sie unter den Taliban respektive in den pakistanischen Flüchtlingslagern nicht geringer geworden ist, ist klar. Um den Traum von einer halbwegs funktionierenden Demokratie zu verwirklichen, gilt es zunächst, ein halbwegs funktionierendes Bildungssystem zu entwickeln, und dies - man verzeihe den Vergleich - auf dem kulturellen "ground zero", welchen fundamentalistische, kulturlose, ja mehr noch, Kultur hassende Barbaren hinterlassen haben. Barbaren, die sich auf eine Religion beriefen, welche über Jahrhunderte die Welt mit Philosophie, Kunst und Kultur bereicherte.
Eine Religion, die wie kaum eine andere in ihrer Welt-Anschauung der Toleranz verpflichtet war und ist. Zu denken ist zum Beispiel daran, dass das Osmanische Reich das einzige Land war, in dem sich Juden halbwegs sicher fühlen konnten, die in Europa den Verfolgungen der Inquisition ausgesetzt waren.
Nun sind bezüglich eines neuen Bildungs-Systems in Afghanistan beachtliche Erfolge zu konstatieren. Die UNICEF hat die Aktion "Back to school" ins Leben gerufen; Siba Shakib hat die Patronanz dafür übernommen. Statt der ursprünglich erwarteten 1,7 Millionen Menschen besuchen nun bereits 5,8 Millionen den Unterricht. Das ist beinahe ein Drittel der Bevölkerung. Dennoch besteht noch lange kein Grund zu Euphorie.
Gabriela Hartig, eine Mitarbeiterin des Roten Kreuzes berichtet, dass in einer Kleinstadt im Norden des Landes nun zwar 1.200 Kinder die Schule besuchen. Allerdings sind 800 davon Knaben und nur 400 davon Mädchen. Auf ihre Nachfrage erhielt sie zur Antwort, dass eben die Mehrheit der Mädchen noch nicht aus den Flüchtlingslagern zurückgekehrt sei. Das mag ein Grund sein. Erst will man Sicherheiten schaffen, die Häuser wieder aufbauen, bevor man die Familie nachkommen lässt. Aber es ist noch etwas: nach wie vor bestimmen die Männer das Leben in der Familie und damit im Land. Die Männer bestimmen, ob ihre Töchter eine Schule besuchen, ob ihre Frau einer Arbeit nachgehen darf. In der Regel herrscht die Meinung vor, dass Heiraten besser sei als studieren.
Die Kollegin vom Roten Kreuz erzählte mir auch noch eine andere Beobachtung, die mich außerordentlich beschäftigt. In Kabul gibt es eine Einkaufsstraße, die den hübschen Namen "Chicken-Street" trägt. Hier fahren immer wieder gepanzerte Fahrzeuge der Schutztruppen mit aufgepflanztem Maschinengewehr vor. Von diesen bewacht, gehen deren Angehörige Souvenirs einkaufen. Ist es nicht ein entsetzlicher Gedanke, dass jemand aus einem Land der Vergewaltigten und Zerfetzten auch noch ein hübsches Andenken mitnehmen will? Es ist wohl mehr als gedankenlos, dass jemand das wenige, was an Kultur in diesem Lande verblieben ist, als folkloristische Trophäe in sein geheiztes Apartment verbringt. Das gute Stück ist nichts weiter als Dekoration. Dass einer Geld dafür ausgibt, anstatt es den armen, bettelnden und verkrüppelten Seelen am Straßenrand in die Hand zu drücken, ist schäbige Ignoranz zu nennen.
Es sind diese kleinen Geschichten, die fürchten lassen, dass die sogenannten Befreiungen oft letztendlich Ursupationen sind, wiederum feindliche Akte, welche die Wiedergeburt der autochthonen Kulturen verhindern oder doch zumindest erschweren.
Der andere Fundamentalismus
Es war ein großer historischer Irrtum, die Welt in links und rechts zu teilen. Sie war und ist eine Welt von Oben und Unten. Die oben wollen und müssen die unten in ihrem Willen einschränken oder gar demütigen, um oben zu bleiben, um der Gefahr zu entgehen, selbst gesteinigt zu werden. Die Frauen, die Kinder, die Armen sind unten. Auch die Sensiblen, die Denker, die Intellektuellen. Oben, da sitzen die, die bestimmen, was sie den anderen übrig lassen, wenn sie sich selbst satt gegessen haben. Was die unten denken und fühlen dürfen, damit sie nicht etwa im Denken und Fühlen reicher würden als sie. Sie bestimmen auch über Himmel und Hölle auf Erden, bedienen sich dafür der ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentarien, wie Ökonomie, Bildungssystem, Religion und physischer Gewalt. Das Paradies ist der Ort, wo die Macht zuhause ist; die Hölle dort, wo Ohnmacht und Misere haust.
Insoferne unterscheiden sich der derzeitige amerikanische Präsident und Osama Bin Laden kaum. Beide sind der lächerlichen Überzeugung, sie wüssten, wo Gott wohnt, wer die guten und wer die schlechten Menschen seien. Das wäre als pathologischer Befund Anlass für eine qualifizierte Therapie. De facto ist es Politik und lebensgefährlich.
Ich habe Fotos vor Augen, von Frauen im Afghanistan der Taliban, aufgenommen unter Lebensgefahr von einer italienischen Kollegin. Gesichtslose Wesen. Gefangene. Eigentum. Gebärmaschinen. Wortlose Geschöpfe. Sprach-los einem sinnentleerten Schicksal ausgeliefert.
Siba Shakib gibt diesen Gestalten wieder Gesicht, Stimme und Ausdruck. Sie zeichnet ihre Seelen auf. Sie legt damit deren Leben wieder frei, welches verschüttet war unter den Bomben-Ruinen, Terror und Angst.
Perspektiven
Wie das mit der Befreiung Afghanistans weitergehen soll, ist eine andere Frage. Ob die Amerikanopäer in der Lage sein werden, diesem Volk seine Selbstachtung zurückzugeben, wage ich zu bezweifeln. Respekt vor andern Kulturen war nie ihre Sache. Während sie zu Hause die Angst vor Überfremdung beschwören und Einwanderungsquoten minimieren, erwarten sie dort, wo sie in ihnen fremden Ländern auftreten und sich festsetzen, die Akzeptanz ihrer abendländischen Spielregeln. Dieser kulturelle Kolonialismus ist schrecklich. Man kann den Frauen Afghanistans nur wünschen, dass ihnen nicht das gleiche Schicksal droht wie den Hausfrauen in Lousiana und Texas. Denn auch der religiös verbrämte westliche Kapitalismus kennt seine Sharia, eine - wenn auch meist unblutige, so doch existenz-vernichtende Maschinerie. Zumindest werden auch hier unliebsame Gegner "mundtot" gemacht.
Auch sollte nicht vergessen werden, dass die heutige Misere Afghanistans nicht ohne die aktive Beteiligung der amerikanopäischen Politik und ihrer Geheimdienste zustande gekommen wäre. Freilich ist zu respektieren, dass sie auf Grund ihrer Weltanschauung nicht anders konnten, als die sowjetische Furie aus diesem Land wieder verjagen zu wollen. Dazu waren ihnen alle Allianzen recht: sie unterstützten die War-Lords, die Mudjaheddin, die Taliban und wahrscheinlich auch das Gespenst Osama Bin Laden. In Unkenntnis der Geheimnisse der Kultur erging es ihnen aber wie dem legendären Zauberlehrling Goethes, der die Geister nicht mehr los wurde, die er rief.
Die Geschichte lehrt uns etwas ganz Simples: es gibt keinen sinnvollen Krieg. Es gibt keine Sieger. Es gibt nur Opfer und Trümmer. Kein denkender Mensch kann für einen Krieg sein. Denn die Probleme, die man durch ihn lösen wollte, überleben ihn. Und zu ihnen gesellen sich Angst, Misstrauen, Wunden und Tränen. Und neuer Hass.
Leise, sensibel, traurig und manchmal wütend
Was geschieht im Krieg und danach mit den Nicht-Helden, den Frauen, den Kindern, den Menschen, die essen, lieben, lesen wollen, die leben wollen, ohne Angst vor Minen, Bomben und Psycho-Terror?
Siba Shakìb erzählt von ihnen, leise, sensibel, traurig und manchmal wütend. Ohnmächtig wütend. Dafür erhält sie heuer den Peter-Surawa-Preis des P.E.N.-Club Liechtenstein, für ihren publizistischen Kampf um Menschenrechte.
Siba Shakib hat ihr Leben riskiert, um uns amerikanopäischen Menschen die Menschen Afghanistans und ihr Schicksal näher zu bringen, jenseits der primitiven Wahrheiten der uns mit grellen Bildern bombardierenden Medien. Shakib lässt diese Menschen von ihrem Leben, ihren Träumen erzählen. Wenn wir deren Stimmen aufmerksam hören, kommt Gott vielleicht auch mal zum Lächeln in Afghanistan vorbei.
Siba Shakib lehrt uns, die unvermeidlich scheinende Globalisierung auch als Möglichkeit zu internationaler Solidarität und weltumspannender sozialer Verantwortung zu begreifen.
Siba Shakib lebt in Köln und New York, Autorin und Filmemacherin.
Peter Surava (1912-1995), mit Berufsverbot belegter Schweizer Publizist
Günther Schatzdorfer, Autor, lebt in Wien und Duino (Triest). Sein jüngstes Buch "Triest - Porträt einer Stadt" (ISBN ist soeben in der Edition Atelier der "Wiener Zeitung" erschienen.