Neues "Weltauto" soll GM-Tochter Chevrolet beflügeln. | Produktion in Korea, Russland und auch in den USA. | Santander/Detroit/Rüsselsheim. "Ist doch wunderbar, wie viel Platz der Kleine bietet, oder?" Wayne Brannons Begeisterung ist ansteckend: Während die Konzernmutter General Motors in Washington einen Rettungsplan nach dem anderen vorlegte und mit Vollgas auf die Insolvenz zusteuert, präsentierten der 54-jährige GM-Europa-Vizepräsident und seine Mitarbeiter in der nordspanischen Hafenstadt Santander zuletzt sechs Wochen lang rund 800 Fachjournalisten aus aller Welt das neue "Weltauto" des Konzerns - den "Beginn einer ganz neuen Ära".
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So etwas wie den Chevrolet "Cruze" - "das geht nur in einem Konzern wie General Motors", kommentiert der "Spiegel": Der 4,60 Meter lange Viertürer ist das vielleicht letzte Globalisierungskind der Patchwork-Familie von GM. Auf der Plattform des kommenden Opel Astra entwickelten Ingenieure in Asien, Europa und Amerika eine kompakte, sparsame Limousine, die für den Weltmarkt in Korea, Russland und auch den USA gebaut werden soll.
Der Mutterkonzern General Motors taumelt derzeit schwer angeschlagen durch die Autokrise, doch die Marke Chevrolet steht glänzend da. "Mit mehr als 4,2 Millionen Zulassungen sind wir nach Toyota und Ford die Nummer drei in der Welt", sagt Jürgen Keller, seit dem Vorjahr Chevrolet-Chef in Deutschland und davor Chef bei Opel-Austria in Wien-Aspern. Mittlerweile wird jedes zweite Auto der Traditionsmarke außerhalb der USA verkauft. Vor allem in Europa - und dort wieder im Osten - entwickelt sich die Marke angesichts der günstigen Preise günstigen Preise prächtig. Wurden hier 2005 noch etwa 300.000 in Europa erkauft, waren es im vergangenen Jahr bereits mehr als 500.000, berichtet Keller.
Auch der deutsche und der österreichische Markt spiegeln diese Entwicklung wider. Chevrolet, hierzulande vor allem für Kleinwagen wie die von der koreanischen GM-Tochter Daewoo übernommenen und umgetauften Modelle wie Matiz oder Aveo bekannt, gehört zu den Gewinnern der Abwrackprämie und verdankt der Subvention in Deutschland den besten Jahresauftakt der Firmengeschichte. "Jeden Monat haben wir mehr als 3000 Autos ausgeliefert und fürs erste Quartal insgesamt über 17.000 Bestellungen in den Büchern. Das gab es noch nie", so Keller.
In der Kompaktklasse hofft man nun auf den Cruze, der in Österreich noch in Mai mit einem Kampfpreis von unter 17.000 Euro auf den Markt kommt.
Der 1,95-Meter-Mann Brannon ist so etwas wie Detroiter Urgestein. Seine Eltern sind in den 50er-Jahren aus dem Süden an den Michigan-See gezogen - die Mutter aus Tennessee, der Vater aus Arkansas -, als Detroit noch die Hauptstadt der Autowelt war und drei von vier in den USA verkauften Autos von den "Big Three" General Motors, Ford und Chrysler kamen. Am Fließband in der Cadillac-Fabrik haben sie einander kennengelernt, bei Cadillac hat auch der Sohn seine Karriere 1973 begonnen. Nach Jahren als Verkaufsverantwortlicher für Südamerika, Afrika und den Nahen Osten sitzt Brannon nun seit 2006 als Chevrolet-Europa-Chef in Zürich. Er ist froh, "ein paar Tage zum Autofahren nach Kantabrien rauszukommen" - die monatliche Strategiesitzung in Detroit ist verschoben worden, nachdem General Motors auch mit seinem zweiten Sanierungskonzept in Washington abgeblitzt war.
Fünf Jahre zu spät?
Dass General Motors nur überleben kann, wenn sich die Konzeption der Autos radikal ändert, räumt Brannon - den persönlich der riesige Geländewagen Hummer eigentlich am meisten beeindruckt hat - unumwunden ein. Dem Fahrwerk des neuen Cruze attestierten die ersten testenden Journalisten in Europa schon Gutes: "Weil der nächste Opel Astra eine solide Basis bildet, kommt erstmals bei einem Modell aus dem koreanischen GM-Zweig so etwas wie Fahrspaß auf", schreibt etwa Tom Grünweg auf Spiegel-Online.
Der wichtigste Markt für das Auto aber sind die USA - auch wenn er dort erst im nächsten Jahr auf die Straßen kommt, weil erst eine US-Fabrik umgerüstet werden muss. "Um mindestens fünf Jahre zu spät", befürchten Branchenkenner, auch wenn die Entwicklungszeit von der ersten Skizze bis zum Produktionsstart nur für GM rekordverdächtige 27 Monate dauerte.
Eine zunehmende Verlagerung der Produktion ins Ausland ist ein wesentlicher Punkt der Überlebensstrategie von GM: Künftig sollten noch deutlich mehr Autos in den Niedriglohnländern Südkorea, Mexiko und China gebaut werden, zitierte die "Washington Post" am Freitag aus einem GM-Papier, das der Konzern kürzlich US-Parlamentariern vorlegte. Demnach soll der Anteil der in den USA verkauften Fahrzeuge, die in anderen Ländern gebaut werden, innerhalb von fünf Jahren von 15 auf 23 Prozent steigen.
In den USA kostet die Arbeitsstunde eines Arbeiters laut "Washington Post" im Schnitt 54 Dollar. In Südkorea müsste GM demnach nur 22 Dollar, in Mexiko 10 Dollar und in China sogar nur drei Dollar für die gleiche Arbeit zahlen. Die Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland dürfte in den USA aber heftige Debatten auslösen: Zurzeit wird der Autobauer lediglich durch staatliche Hilfen aus Washington in Höhe von bisher 15 Milliarden Dollar am Leben gehalten, um die Ende des Monats drohende Insolvenz abzuwenden, bereitet GM seine eigene Verstaatlichung vor.
Dazu sollen bis zu 60 Milliarden neue Aktien ausgeben werden, um die Schulden in Beteiligungen umzuwandeln - die US-Regierung würde mindestens 50 Prozent der Anteile erhalten, die derzeitigen GM-Aktionäre hielten dann nur ein Prozent an einem neu geformten Konzern.
Mit einem erneuten Quartalsverlust von knapp 4,5 Milliarden Euro ist GM inzwischen der Insolvenz noch näher gerückt. Seit Anfang 2005 hat der größte US-Autobauer damit ein Minus von insgesamt 88 Milliarden Dollar eingefahren.
Wayne Brannon verliert die gute Laune nicht: Während die österreichischen und Schweizer Autojournalisten wieder abreisen, klettern am Flughafen von Santander fünf Dutzend chinesische Kollegen in die bereit gestellten Cruze-Testautos. Während man in den USA im Frühjahr um fast die Hälfte weniger Autos verkauft hat, hat GM in China neue Verkaufrekorde aufgestellt - "und ordentlich durchgebratene Steaks kriege ich in Europa auch nicht", brummt Brannon.