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Herbst 2004. Der Intercity-Express Berlin-Köln rast übers flache Land. Wiesen, hier und da ein Wäldchen. An Bord eine Schulklasse, 15-Jährige auf der Rückfahrt vom Berliner Ausflug. Soeben ließ der Zug die Stadt Stendal zurück. Sie lag auf ehemaligem DDR-Gebiet. Hannover, die Messestadt der ehemaligen BRD, ist nun nicht mehr weit. "Endlich sind wir wieder im Westen", atmet da eines der Mädchen auf.
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Sie sind im Jahr des Mauerfalls geboren worden. Sie haben das geteilte Deutschland ihrer Eltern nicht mehr kennen gelernt. Doch sie leben in Ost oder in West. Noch immer. Oder schon wieder. Es gibt die da drüben und wir hier. Es gibt die Ossis und die Wessis. Knapp 20 Prozent der Deutschen denken 15 Jahre nach der Grenzöffnung, es wäre besser gewesen, die Mauer wäre nie gefallen. Für die Feier des Jubiläums werden sich in diesem Jahr kaum Jubelmassen finden. In das Gedenken an die Euphorie des 9. November 1989 mischt sich heute Enttäuschung. Ost wie West erkennt und bekennt sich anderthalb Jahrzehnte nach dem großen Ereignis fast trotzig zu seinen Unterschieden. Die angestrengte Suche nach dem einen deutschen Volk scheint langsam aufgegeben zu werden und zwei Völker finden sich. Wenn die Mauer als trennende Linie in Biografien und Mentalitäten, in Werten und Kritik endlich akzeptiert wird, könnte sie als innerdeutsche Grenze irgendwann doch noch fallen.
Erinnerung
Herbst 1989. Die Nacht des Mauerfalls - verschlafen. Die Ansage von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski, mit der überraschend die Grenze wurde, kam zu abendlicher Stunde im DDR-Fernsehen. Schabowski hatte auf einer Pressekonferenz Reiseerleichterungen für DDR-Bürger angekündigt und auf die Frage, wann diese in Kraft träten, "Sofort, unverzüglich" geantwortet. Aber da war der Fernseher im Wohnzimmer schon abgeschaltet. Und niemand rief an, um das Unglaubliche mitzuteilen. In der Ostberliner Wohnung, nur zehn Minuten Fußweg vom Grenzübergang Checkpoint Charlie entfernt, schlief die Familie ahnungslos. Erst am nächsten Tag auf dem Schulhof aufgeregtes Geschnatter. "Hast Du schon gehört, die Mauer ist gefallen." "Robert aus der Nachbarklasse war drüben und hat seinen Bruder getroffen, der abgehauen war." "Können wir jetzt alle einfach rüber gehen?" "Nur ein Visum brauchst du." "Nee, gar nicht, gehst einfach hin und die lassen dich durch." Wie im Taumel zurück zu den Eltern: "Habt ihr schon gehört ...?" "Ja," antwortet der Vater leise. "Schön. Aber das heißt auch, dass jetzt die Arbeitslosigkeit kommt, die Obdachlosigkeit, Drogen und Armut, all das, was wir nicht kannten."
Zweiklassengesellschaft
Prophetische Worte. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen Ost und West sind heute noch immer derart, dass über die Hälfte der Ostdeutschen von einer Zweiklassengesellschaft spricht. Über 18 Prozent Arbeitslosigkeit im Osten stehen 8 Prozent im Westen gegenüber. Seit 1997 dümpelt die ostdeutsche Wirtschaftsleistung bei etwas mehr als der Hälfte des Westdurchschnitts herum. Und wer Arbeit hat, verdient fast ein Fünftel weniger als die Kollegen im anderen Teil Deutschlands. Selbst auf rechtlicher Basis ist diese Ungleichheit zementiert. Per Gesetz wurde erst vor wenigen Monaten festgelegt, dass ab Januar 2005 ostdeutsche Arbeitslose 14 Euro weniger Unterstützung erhalten als ein Westdeutscher in gleicher Situation. Mehr als 3 Millionen Ostdeutsche sind aus diesen Gründen seit dem Mauerfall in den Westen abgewandert. Sie sehen im Osten keine Zukunft mehr für sich. Die Ostberliner Bezirke Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain dagegen wurden zum Mekka der westdeutschen 30-Jährigen, die ostdeutsches Design zur Popkultur erklärt haben.
Doch hilft diese Vermischung nicht über die Unterschiede hinweg. Die verschiedenen Lebenserfahrungen in Ost und West haben sich tief eingeprägt und werden selbst an die Generationen weitergegeben, welche die Mauer gar nicht mehr kannten. Ost und West denkt anders, fühlt anders und lebt anders. Das bescheinigen sich bei einer Umfrage des Instituts FORSA die Deutschen sogar untereinander. Westdeutsche glauben von ihren ostdeutschen Landsmännern, sie seien ehrlich, aber hätten ein geringes Selbstbewusstsein und klagten viel. Ostdeutsche halten den Westdeutschen ihre Flexibilität zugute, finden sie aber arrogant und berechnend. Und so wuchs nicht zusammen, was zusammen gehören sollte. "Im Westen herrschte die simple Logik: Unser System hat gesiegt, jetzt muss es im Osten komplett nachgebaut werden ... Aber die Menschen haben die DDR weggefegt, nicht jedoch die Wertvorstellungen, die sie in 40 Jahren verinnerlicht haben", erklärte der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière in einem Interview mit der Zeitschrift "Spiegel".
Der Osten als Show
Herbst 2004. Am ehemaligen Grenzübergang Checkpoint Charlie in Berlin erwächst die Mauer wieder. Nein, nicht im Original. Und auch nicht für den Teil der Deutschen, der sie noch immer gerne hätten. Da gibt es noch ganz andere, die sich die Mauer wünschen für einen Moment des Gefühls, wie es damals war. Alexandra Hildebrand, Chefin des Mauermuseums Checkpoint Charlie, trägt dem Rechnung. Sie hat auf 200 Metern Länge 120 Mauerteile aufgestellt. Die Täuschung funktioniert. In Heerscharen lichten sich japanische Reisegruppen vor dem Betonwall ab, pilgern amerikanische Touristen um die Wand und wechseln flugs von Ost nach West. Einen Ort des Gedenkens wollte Hildebrand so schaffen und legte gleich noch einen Wald aus Kreuzen für die Maueropfer, die am ehemaligen Schutzwall ums Leben kamen, an. Geschäftemacherei mit Pseudogeschichte wird ihr nun vorgeworfen. Egal wie, die Aktion zeigt den Verkaufswert der Berliner Mauergeschichte. "Ich weiß zwar nicht, warum hier noch etwas aufgestellt wird. Es gibt ja Mauerreste in Berlin. Aber fürs Geschäft ist es bestimmt gut," glaubt eine Kellnerin im anliegenden Café Adler. Auch die Souvenirhändler freuen sich über den wachsenden Touristenstrom. Und wenn das Angebot nicht reicht, wird nachgeholfen. Erst kürzlich flog in einem kleinen Ort in der Nähe von Berlin eine Fälscherwerkstatt für Mauerreste auf.
Währenddessen lebt der Osten in Shows und teuren Chicläden weiter. Plastesessel aus ehemals volkseigenen Betrieben, Omas 50er Jahre Couchtisch oder Geschirr aus DDR-Porzellan kosten heute in Berlins Flaniermeile um die Hackeschen Höfe mehrere 100 Euro. Es gibt wieder Spreewaldgurken und Nudossi, Florena-Creme und Knusperflocken. DDR-Produkte, lang entbehrt auf dem westlichen Markt, feiern ihr Come-Back. Und wie in Paraden ziehen der Sandmann und die DDR-Eisprinzessin Katarina Witt durch diverse Fernsehshows, wird das ostdeutsche Ampelmännchen gefeiert und zu Schlagern der Ostbands geschunkelt. Das Zweite Deutsche Fernsehen veranstaltete die Ostalgie-Show, auf dem MDR gabs Ein Kessel DDR in Anlehnung an die einst beliebte Show Ein Kessel Buntes des DDR-Fernsehen. Erinnerungsschmuseprogramme mit durchschlagendem Erfolg.
Emanzipation des Ostens
So platt und absurd vieles von dem ist, was gesendet oder vermarktet wird - dieser trunkene Blick zurück gen Osten trägt doch nicht unwesentlich zur Emanzipation ostdeutscher Lebenswelt bei. Erstmals wird sie überhaupt als solche im westdominierten Gesamtdeutschland wahrgenommen. Erstmals wird wahres Leben im Falschen eingestanden. Erstmals soll nun auch im Schulunterricht verstärkt das Thema DDR behandelt werden. Erstmals begreift sich auch der Westen als verschieden vom Osten und nicht nur umgekehrt. Nun, 15 Jahre nach dem Mauerfall, kann ein neuer Findungsprozess der Deutschen beginnen, der die Mauer in den Biografien akzeptiert statt sie wegreden zu wollen. Denn nach dem Mauerfall ist vor dem Mauerfall.