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Ein Dorf für die Griechen

Von Elisabeth Förg und Ulrich Göttke-Krogmann

Reflexionen

Nach dem griechischen Bürgerkrieg im Jahr 1949 flohen mehrere kommunistische Partisanen nach Polen und bauten sich dort eine neue Existenz auf. Ein Besuch in einer Enklave, von der man außerhalb Polens wenig weiß.


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Kommunaler griechischer Friedhof im ostpolnischen Dorf Kroscienko.
© Göttke-Krogmann

"Kalimera" ruft unsere Gesprächspartnerin einer alten Frau entgegen, die mit einer Einkaufstasche in der Hand auf uns zukommt. Seit bald zwei Stunden sitzen wir mit Wasilissa vor dem einzigen Geschäft in einem Dorf am Rande, am Rande Polens, Europas, der Welt. "Mit ihr müsst Ihr sprechen", ruft sie energisch und winkt die alte Frau mit dem strahlenden Lächeln her. Droscha ist die letzte griechische Partisanin, die noch heute in Kroscienko lebt. "Ich war 16, ein junges Mädchen, und hatte genug von der bitteren Armut bei uns zu Hause", erzählt sie mit leichter Wehmut in der Stimme, "meine zwei Brüder haben schon in den Bergen gekämpft. Eines Tages bin ich ihnen gefolgt." Und nach einer Pause: "Wir haben an ein besseres Leben geglaubt damals."

Aus dem Partisanenkampf wurde ein Bürgerkrieg. Hinter den Royalisten standen die Amerikaner und Briten, hinter den Kommunisten die Sowjetunion und Jugoslawien. Sie fochten den ersten Stellvertreterkrieg des heraufziehenden Kalten Krieges aus. Der Westen gewann, Droscha und ihre Genossen mussten fliehen. Über Albanien, Bulgarien und Jugoslawien, zu Zehntausenden. Irgendwie ist sie in einem Lager in Nordpolen gelandet, auf der Insel Wolin. Dank ihrer Verwundungen - die tiefen Narben trägt sie bis heute - wird sie als kommunistische Partisanin anerkannt.

Das war 1949. Polen war ein verwüstetes Land, die ehemals deutsch besiedelten Städte und Dörfer waren leer und zerstört. Nach ihrer Genesung wird Droscha mit vielen ihrer Kampfgefährten nach Zgorcelec, die polnische Seite von Görlitz, geschickt und in Kasernen untergebracht. Dort haben sich auch Wassilissas Eltern kennen und lieben gelernt. Immer wieder hat ihr Vater die gleiche Geschichte erzählt: Wie kalt es war und wie nutzlos sie sich fühlten in dem fremden Land. Da kam von der Flüchtlingsverwaltung das Angebot, in ein Dorf "in den Süden" zu übersiedeln. Mit neuer Hoffnung erfüllt, nahmen sowohl Droscha als auch die Eltern Wassislissas das nicht ganz so freiwillige Angebot an - die Kasernen in Zgorcelec beanspruchte nach und nach die sowjetische Armee für sich.

Ein einsames Dorf

Ab Jänner 1952 organisierte die kommunistische polnische Partei die Umsiedlung, an die 3000 Griechen wurden aus dem Westen Polens in den Südosten in das Dorf Kroscienko gebracht, unmittelbar an der Grenze zur Sowjetunion.

Kroscienko liegt im Herzen Galiziens, 65 Kilometer südlich von Przemysl. Seine Geschichte steht prototypisch für alle Orte in diesem Raum an der heutigen polnisch-ukrainischen Grenze. Vor dem Krieg lebten dort vornehmlich Ukrainer bzw. Bojken und Lemken, wie sie sich selbst nannten, einige evangelische Deutsche, einige polnische Bauern, etwas mehr Juden. 1939 teilen sich Hitler und Stalin ihre Interessenssphären in Polen auf, Kroscienko fällt der Sowjetunion zu - zunächst auf dem Papier des Ribbentrop-Molotow-Planes. Wenige Tage später beginnt der deutsche Angriff auf Polen, auch das der Sowjetunion "zugesprochene" Gebiet wird zunächst überrannt, die Deutschen des Dorfes ziehen unter der Parole "Heim ins Reich" gen Westen. Nach wenigen Tagen ziehen sich die Deutschen hinter die vereinbarte Linie des San zurück, die Sowjets übernehmen. Ausweisung und Deportation der polnischen Bevölkerung Kroscienkos folgen. 1941 beginnt der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, Kroscienko und ganz Ostgalizien werden die erste Beute der Deutschen. Die rund 200 Juden des Ortes werden zusammengetrieben und an Ort und Stelle erschossen oder im Vernichtungslager Belzec ermordet. Am Ende des Krieges werden die Grenzen zunächst wie 1939 gezogen, Kroscienko wird wieder Teil der Sowjetunion.

Im Jahr 1951 kommt es zu einem kleineren Gebietstausch zwischen Polen und der Sowjetunion, "wie üblich" muss die in dieser Konstellation gerade unerwünschte Bevölkerung gehen, in diesem Fall die Ukrainer bzw. Bojken und Lemken. Einige wenige Polen aus dem getauschten Gebiet kommen in Kroscienko an, aber im Großen und Ganzen ist das Dorf leer, als die griechischen Siedler 1952 hier eintreffen.

Den Süden hatten sich die neuen Siedler allerdings anders vorgestellt, als sie mit ihrem kärglichen Hab und Gut im leer geräumten Dorf ankamen. Unwirtlich, einsam, arm, kalt, die Häuser verlassen durch Vertreibungen und Ermordungen. Abermals ernüchtert hofften viele auf ein kurzes Gastspiel, heizten mit den Balken ihrer Ställe, bis sie keine Ställe mehr hatten.

Nur langsam setzte sich die Erkenntnis durch, dass das hier wohl länger dauern würde. Mit Frühlingsbeginn kamen Hoffnung und Tatkraft zurück und sie machten sich an den Aufbau einer besseren Welt. Gemeinsam gründeten sie die Produktionsgenossenschaft "Neues Leben", züchteten Rinder und Schafe, betrieben Acker- und Weidewirtschaft, brachten das Sägewerk wieder in Gang. Darüber hinaus hatte jeder Haushalt ein kleines privates Grundstück, auf dem sie Kleinvieh halten und Gemüse anbauen konnten.

Voll Stolz erzählt Droscha von der Organisation des gemeinschaftlichen Lebens, der Verwirklichung ihrer Ideale: "Kaum einer von uns konnte lesen und schreiben, am wenigstens die Mädchen und Frauen. Und wir wussten, wenn es unseren Kindern besser gehen sollte, dann brauchten wir eine Schule." Und Wassilissa ergänzt: "Wir lernten beides, griechisch und polnisch, und viele von uns konnten dann eine höhere Schule besuchen." Damals, in den 50er und 60er Jahren, gab es im Ort eine Poliklinik, einen Friseur, eine Bäckerei, die griechisches Fladenbrot buk, eine Druckerei, ein Kino und jede Menge griechischer Feste mit Musik und Tanz. Der Mann von Droscha verarbeitete die Schafwolle zu begehrten Decken. Und natürlich wurde aus der Schafmilch Feta erzeugt. Die Verwandten in Griechenland sollen sogar Kanister mit Olivenöl geschickt haben. Dass man in den verschiedenen Gaststätten der Region heute Griechischen Salat bestellen könne, gehe auf diese Zeit zurück.

Polnische Einflüsse

Zu Beginn lebte nur ein einziger Pole als Aufpasser bei den Griechen in Kroscienko, ein gewisser Franciszek Konopelski. Die polnischen Geheimdienste waren sehr daran interessiert zu erfahren, ob sie Tito- oder Mao- oder Stalin-Kommunisten waren, ob sie mit den Kommunisten in Albanien oder Italien oder der Sowjetunion sympathisierten, oder ob sie politisch desinteressiert waren. Aber der Aufpasser war auch nur ein Mensch und wohnt bis heute in Kroscienko, all die Jahre ein guter Freund von Droschas Mann.

Die griechische Polin Droscha.
© Göttke-Krogmann

Langsam kamen mehr Polen nach Kroscienko, die eine oder andere gemischte Heirat ergab sich. 1960 waren von 755 Bewohnern 494 Griechen und 261 Polen. Bereits um 1970 kippte das Verhältnis von Griechen und Polen zugunsten der Polen. Nach 1982, als die griechische Regierung eine Amnestie für die emi-grierten Partisanen erließ und sie formell zur Rückkehr nach Griechenland einlud, verließen viele Kroscienko.

Nahezu vollständig wurde die Abwanderung nach der Wende, weil die ehemaligen kommunistischen Partisanen nicht mehr so zuvorkommend behandelt wurden. So erhielten die Griechen, die als politische Flüchtlinge nur eine Daueraufenthaltsgenehmigung hatten, keine Staatsaktien. Für unsere beiden Gesprächspartnerinnen war dies der Grund, um die polnische Staatsbürgerschaft anzusuchen. Wassilissa arbeitet seit vielen Jahren in der Kreisstadt und lebt ein recht zufriedenes Leben in Kroscienko, wie sie sagt. Droschas Mann ist vor einigen Jahren gestorben, begraben auf dem katholischen Friedhof bei der schön renovierten Holzkirche des Ortes.

Das stille Ende

Als hätte sich die Zugehörigkeit geändert: je weniger Griechen, desto näher die Anbindung an die polnische Bevölkerung, an die katholische Religion. Denn es gibt einen eigenen - sogenannten kommunalen - Friedhof für die Griechen, der hinter einem Wäldchen am Dorfrand liegt und bis heute von der Gemeinde gepflegt wird. Jüngere Gräber gibt es dort nur wenige.

Die Genossenschaft "Neues Leben" besteht bis heute, die meisten der Stallungen und Wirtschaftsgebäude sind allerdings verfallen und werden sukzessive von Wind, Wetter und Materialsuchern zerlegt. Der Bahnhof ist längst stillgelegt, die Grenzstation zur Ukraine hat keinerlei sichtbare Auswirkungen auf den Ort, etwa in Form von Pensionen, kleinen Grenzshops oder Tankstellen. Aber es gibt noch eine Schule, eine recht günstige Busverbindung nach Ustrizky Dolne, ein Geschäft, demnächst vielleicht eine Bar. Sogar einen Festsaal gibt es noch und eine öffentliche Bücherei, täglich geöffnet.

Nach der Wende hatte die griechische Botschaft für die Exilanten eine Reise nach Griechenland organisiert, damit sie ihre Verwandten besuchen und ihre Dokumente in Ordnung bringen konnten. Auch Droscha ist gefahren, aber der Besuch bei der Familie endete im Streit. Die Geschwister hatten den Familienbesitz unter sich aufgeteilt und fürchteten um ihren Anteil. Sie hat die polnische Staatsbürgerschaft angenommen und konnte so ein Haus mit Grundstück erwerben. Ihre drei Jahre Partisanenkampf wurden ihr für den Rentenbezug anerkannt. Sie spricht zwar kaum polnisch, aber Kroscienko ist ihre Heimat geworden.

Elisabeth Förg, geb. 1960, lebt in Schwaz, ist Expertin für internationale Entwicklung und Autorin, besucht am liebsten entlegene Winkel dieser Erde.

Ulrich Göttke-Krogmann, geb. 1955, lebt in Wien, ist Ethnologe und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Galizien, insbesondere mit der Westukraine.