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Ein Durchbruch in eine neue Ära?

Von Andrej Iwanowski, Moskau

Politik

Die USA und Russland sollen morgen einen Abrüstungsvertrag unterzeichnen, der an Radikalität alle früheren Verträge übertrifft. Welche politischen Folgen dieser Vertrag haben wird, ist allerdings nicht ganz einfach zu beurteilen.


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Der neue amerikanisch-russische Vertrag über die Reduzierung der strategischen Offensivwaffen hat noch vor seiner Unterzeichnung äußerst unterschiedliche Bewertungen geerntet - von einem "wertlosen Stück Papier" bis hin zum "Durchbruch in die neue Ära der Ost-West-Beziehungen". Politiker und Militärs, Politologen und "Menschen von der Straße" füllen ganze Zeitungsseiten mit ihren Stellungnahmen. Fernsehen und Rundfunk verschwenden ihre teuere Sendezeit für Rückblicke in die Abrüstungsgeschichte, tiefgreifende Analysen oder auch belangloses Blabla "zur Rolle der Bedeutung". Dabei haben bisher höchstens ein Dutzend Personen auf der ganzen Welt das neue Dokument wirklich gesehen und gelesen.

Zum Lesen gibt es in Wirklichkeit nicht allzu viel. Im Gegensatz zu den früheren Abrüstungsverträgen zwischen Washington und Moskau, die solide Schmöker darstellten und penibelst ins Detail gingen, ist der neue, aus einer Präambel und fünf Kapiteln bestehende Vertrag lediglich drei Seiten lang. Und es hätte durchaus sein können, dass nicht einmal dieses lapidare Schriftstück zu Stande kommen würde.

USA-Präsident George Bush jr. hatte sich nämlich Monate lang geweigert, mit den Russen überhaupt etwas zu unterschreiben. "Russlands Präsident Wladimir Putin und ich sind jetzt Freunde und Partner, unser Handschlag genügt", meinte er noch im November 2001. Bushs Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice sagt das auch jetzt: " Wir sind weiterhin der Ansicht, dass der Vertrag nicht nötig war, Präsident Bush hat aber seinem russischen Partner Gehör geschenkt."

Ein Foto fürs Familienalbum

Beobachter in beiden Ländern war sich einig: Amerika ist stark genug, niemand auf der Welt kann es zu vertraglich verankerten Selbsteinschränkungen zwingen. So gesehen, stimmt auch Bushs Äußerung, dass mit dem neuen Vertrag "das Erbe des Kalten Krieges" beseitigt wird. In jener Epoche wären derartige Pseudo-Verträge wirklich unmöglich gewesen. Das Dokument sei nötig, räumt die Moskauer "Iswestija" ein, damit "Russland sein Gesicht wahrt, indem es nukleare Rüstungen reduziert, die es aus Geldmangel sowieso nicht finanzieren kann". Wie sich ein Washingtoner Offizieller ausdrückte: "Die Russen bekommen den Vertrag, wir bekommen den Rest."

Durchaus möglich, dass George Bush auf diese Weise einfach die "Familientradition" fortsetzen möchte: immerhin hat sein Vater 1991 und 1993 mit Michail Gorbatschow bzw. mit Boris Jelzin die historischen Abrüstungsverträge START 1 und START 2 signiert. Nun kommt ein weiteres ähnliches Bild - diesmal mit Bush junior und Putin darauf - ins Familienalbum.

Der lakonische Vertrag, der morgen, am 24. Mai, in Moskau unterzeichnet werden soll, lässt sich - soweit die Informationen über den Inhalt in die Presse durchgesickert sind - wirklich in ein paar Sätzen wiedergeben. Beide Seiten verpflichten sich, ihre strategischen Arsenale vom jetzigen Stand - jeweils 5000 bis 6000 Gefechtsköpfe - innerhalb von zehn Jahren auf ein Level von jeweils 1700 bis 2200 abzubauen.

"Verpflichten" ist dabei etwas stark gesagt. Erstens: jede der Seiten ist berechtigt, jederzeit aus dem Vertrag auszusteigen - ein Bescheid drei Monate im voraus reicht aus. Zweitens: das Tempo der Reduzierungen bestimmt jede Seite für sich. Drittens: über die Bereiche der Reduzierungen - ob bodengestützte Raketen, U-Boote oder strategische Bombenflugzeuge - entscheidet jede der Seiten selbst. Viertens: die abmontierten Gefechtsköpfe können nicht liquidiert, sondern nach der Demontage (zumindest teilweise) "gelagert" werden. Jedenfalls steht im Vertrag nichts über das weitere Schicksal der abmontierten nuklearen Sprengsätze.

Der letztere Punkt, von dem die Amerikaner nicht abrücken wollten, war für die Russen besonders schmerzhaft. Denn nach Angaben eigener Militärexperten wird sich Russland in einigen Jahren die Beibehaltung von höchstens 1000 bis 1500 Gefechtsköpfen wirtschaftlich leisten können. Wie aus russischen Militärquellen verlautete, würden zwar die USA auf eigene Initiative und ohne vertragliche Verpflichtungen 1600 der demontierten Gefechtsköpfe vernichten und weitere 2400 schnell einsetzbar lagern. Von einer "nuklearen Parität" zwischen den beiden bisher mächtigsten Atomstaaten - ein Kernelement der Epoche des Kalten Krieges und des Rüstungswettlaufs - kann aber nicht mehr die Rede sein. Insofern hat Bush jr. mit seiner These, mit dem Vertrag werde "das Erbe des Kalten Krieges beseitigt", wiederum recht.

Kalter Krieg in den Köpfen

In den Köpfen vieler Menschen in beiden Ländern leben dennoch die Denkklischees aus den früheren Zeiten weiter. Mitte März veröffentlichte etwa die "Los Angeles Times" einen Geheimbericht des Pentagon, in dem Russland neben den "Schurken" wie Irak, Nordkorea oder Libyen als eventuelles Ziel für amerikanische Kernwaffenschläge erwähnt wurde. Kopfschüttelnd reagierte Putin darauf: "Es gibt noch viele in Washington, die in den Kategorien des Kalten Krieges denken." Aber auch im eigenen Land hat Russlands Staatschef mit ähnlichen Problemen zu tun. Besonders die Generäle wollen in den USA und der NATO weiterhin der Feind sehen, der ihren Einfluss und überhaupt ihre Existenz - samt Dienstwagen, Gratis-Villen etc. - rechtfertigt. Mit der Unzufriedenheit der Militärs werde Putin als Russlands Oberbefehlshaber "bald rechnen müssen, denn ihre Mentalität macht die schnelle Evolution des Präsidenten in Richtung Integration mit der EU und der NATO sowie in Bezug auf die 'altruistische' Freundschaft mit den USA nicht mit", schrieb die "Iswestija". Nach dem Moskau-Besuch Bushs könnte in Russland "eine offene Opposition gegen Putins außenpolitischen Kurs entstehen".

Putins politische Rivalen aus dem linken Flügel brandmarkten bereits den geplanten Vertrag mit den USA. Dies sei, so KP-Chef Gennadi Sjuganow, ein "unerhörter Verrat an den nationalen Interessen Russlands". Der Präsident und Außenminister Igor Iwanow hätten "mit eigenen Händen den nuklearen Schild Russlands vernichtet". Bei der roten Demonstration am 1. Mai in Moskau riefen die KP-Anhänger in Sprachchören: "Putin Buschu prodal duschu!" Zu Deutsch: "Putin hat Bush die Seele verkauft."

Aber auch viele Russen, die sich nicht unbedingt mit den KP-Idealen solidarisieren, leiden am Minderwertigkeitssyndrom der besiegten Großmacht und dementsprechend an einem stark ausgeprägten Antiamerikanismus. Bei den jüngsten Winterspielen in Salt Lake City wurde das Ventil für derartige Gelüste weit aufgemacht. Hinter dem relativen Misserfolg der russischen Mannschaft wurde nämlich eine "Verschwörung" der amerikanischen Gastgeber "entdeckt". "Ich werde gleich weinen", schrie etwa der russische Fernsehkommentator bei der Damenkür im Eiskunstlauf, weil die Russin "nur" auf Platz zwei hinter einer Amerikanerin landete. "Wie lange darf man noch dieses Niedermachen unserer Heimat dulden? Zum Teufel - höchste Zeit, die Sachen zu packen und schnellstens wegzudüsen!" Dass das Olympia-Silber in dieser Disziplin Russlands absolute Spitzenleistung war, vergaß man irgendwie.

Eine Männerfreundschaft?

Der unvergessliche Schlusssatz aus dem Kultfilm "Casablanca" - "Dies könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden" - strapazierte Russlands Presse im Zusammenhang mit dem Putin-Bush-Verhältnis recht oft. Denn nach seinem Amtsantritt wollte der USA-Präsident Russland arroganterweise schlicht und einfach ignorieren. Mehr noch: Mitte Jänner 2001 erklärte Bush, die USA würden diesem Land "kein Geld geben, weil es seine Finanzverpflichtungen nicht einhält". Dem Vernehmen nach hing über Außenminister Iwanow die Entlassungsdrohung, sollte er keinen Termin für ein Putin-Bush-Treffen aushandeln. Zu seinem Glück kam eine solche Begegnung im Juni 2001 in Ljubljana zu Stande. "Ich habe Putin in die Augen geschaut und festgestellt: Diesem Burschen kann man trauen", erklärte Bush damals.

Der 11. September verbesserte dieses Verhältnis radikal. An jenem Tag war Putin schneller am Telefon als ein Blair oder ein Schröder, um dem USA-Kollegen sein Mitgefühl zu bekunden und Hilfe anzubieten. Und diese Hilfe war wirklich greifbar: Moskau rüstete die Taliban-Gegner aus der Nordallianz mit Panzern und Artillerie massiv aus und belieferte die Amerikaner mit wertvollen Daten aus eigenen unrühmlichen Afghanistan-Erfahrungen. Mehr noch: Russland gab die unschätzbare Zustimmung für die amerikanische Militärpräsenz in seiner historischen Einflusssphäre Mittelasien - eine Vertrauensbekundung, die in der Sowjetzeit absolut unvorstellbar gewesen wäre.

In Erwiderung darauf durfte Putin im November als erster ausländischer Politiker mit seiner Gattin auf Bushs Ranch in Texas speisen und übernachten.

Ende Mai 2002 ist nun Bush an der Reihe. Die Russen werden sich schon entsprechend ins Zeug legen: In den fingerdick vergoldeten Kreml-Gemächern und in Putins Heimatstadt Sankt Petersburg wird der amerikanische Gast sicherlich üppigst versorgt. Immerhin ist das Bushs erster Besuch beim ehemaligen Erzfeind. Die Reporter können langsam ihre Kameras auf eine historische Kuss-Szene scharf stellen. Zu erwarten ist, dass der gerührte USA-Präsident die - ohnehin längst beschlossene - Aufhebung der noch aus der Sowjetzeit stammenden Einschränkungen für den Handel mit Russland verkünden wird.

"Spätestens in 15 Jahren werden Moskau und Washington Verbündete sein", meinte Russlands Ex-Außenminister Andrej Kosyrew. Ein ausgedienter Politiker darf sich eine solche Prophezeihung leisten. Aktive Politiker haben eher mit dem heutigen Tag zu tun. Und da kommt es auf den Standpunkt an. Betrachtet man den neuen Abrüstungsvertrag vom altgewohnten Standpunkt des "Gleichgewichts des Schrekcens" und der "gegenseitigen Abschreckung", so wird damit sicherlich das Ende der "nuklearen Parität" und die Vormachtstellung der Supermacht USA verankert. Lässt man das "Paritäts"-Klischee weg, erscheint das Dokument eher als eine pragmatische Absichtserklärung zwischen zwei Partnern, die die altmodische Idee der gegenseitigen Vernichtung wirklich aufgeben wollen. Wie man's nimmt.

Für die Anhänger des alten Denkens bleibt allerdings der kleine Trost: sollte der Vertrag auch verwirklicht werden, wären die beiden Staaten trotzdem auch in zehn Jahren in der Lage, einander zu vernichten. Sogar mehrfach.