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Ein durchsichtiges politisches Spiel

Von Franz Schausberger

Gastkommentare
Franz Schausberger ist Universitätsprofessor für Neuere Geschichte, Vorsitzender des Instituts der Regionen Europas und ehemaliger Landeshauptmann von Salzburg.
© privat

Die Chance für eine Lösung im Kosovo darf nicht durch Neuwahlen zerstört werden.


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Wer dieser Tage in Belgrad Menschen über die aktuelle Lage in Serbien befragt, bekommt je nach politischer Herkunft die unterschiedlichsten Antworten. Es gibt aber ein paar Fragen, die von fast allen ungefähr gleich beantwortet werden. Zum einen bestätigen die meisten, dass die beiden jüngsten Tragödien und die darauf folgenden Massendemonstrationen Präsident Aleksandar Vučić und seine Partei SNS ziemlich verunsichert und nervös gemacht hätten, andererseits man aber die Regierung, die erst seit einem Jahr im Amt ist, nicht unmittelbar für diese tragischen Vorkommnisse verantwortlich machen könne.

Ein 13-Jähriger erschoss Anfang Mai in einer Belgrader Schule neun Mitschüler und einen Wachmann. Einen Tag später schoss ein 21-Jähriger in einem Dorf bei Belgrad auf Menschen und tötete acht von ihnen. Nach diesen Massakern begannen linke und liberale Oppositionsparteien und Bürgerbewegungen Protestaktionen unter dem Motto "Serbien gegen Gewalt" zu organisieren, denen sich viele politisch nicht organisierte, verunsicherte, besorgte Bürgerinnen und Bürger anschlossen.

Der anfängliche Protest gegen Waffenbesitz und Gewalt sowie Sender, die gewalttätige Inhalte zeigen, mündete immer mehr in Forderungen nach dem Rücktritt des Präsidenten sowie der für den Sicherheitsapparat verantwortlichen Politiker und Beamten. Vučić und den von ihm kontrollierten Boulevardmedien wurde vorgeworfen, ein Klima des Hasses und der Gewalt zu erzeugen. Die Regierung erließ sehr rasch einige Maßnahmen, darunter eine einmonatige Amnestie für all jene, die ihre unregistrierten Waffen den Behörden übergeben. Damit wurden zwar tausende Waffen eingesammelt, doch ist noch ein Vielfaches davon im Umlauf. Die Maßnahmen sind den Demonstranten zu wenig: Die Regierung gehe nicht entschieden genug gegen Gewalt, den privaten Waffenbesitz und die organisierte Kriminalität vor, kritisieren sie.

Furcht und Verunsicherung

Tatsächlich sind noch weitere Maßnahmen notwendig, der Prozentsatz an Waffenbesitzern ist enorm hoch, praktisch kommt auf jeden dritten Einwohner eine Waffe. Es ist nicht das erste Mal, dass Vučić innenpolitisch unter Druck kommt. Während der Corona-Pandemie gab es ebenfalls Massenproteste, dann allerdings wurden der Präsident und seine Partei bei den Wahlen im Vorjahr bestätigt. Erst vor kurzem gab der Präsident den SNS-Vorsitz an seinen Vertrauten, Verteidigungsminister Miloś Vučević, ab. Vučić kündigte die Gründung einer bislang nicht definierten (überparteilichen) Bewegung an.

Weite Übereinstimmung besteht auch in der Ansicht, dass Präsident Vučić gleich nach den Morden mit der Situation nicht umgehen konnte und keinerlei Empathie zeigte. Wäre er unverzüglich zu den Tatorten gekommen und hätte etwa durch Niederlegung von Blumen seine Betroffenheit gezeigt, wären die heftigen Demonstrationen möglicherweise ausgeblieben.

Als ein absolutes No-Go aber werden die Beschimpfungen der Demonstranten durch Exponenten der SNS, wie etwa durch die Vizepräsidentin des Parlaments, Sandra Božić, angesehen. Tatsächlich sind viele Menschen ohne politischen Hintergrund verunsichert, fürchten sich und schließen sich den Demonstrationen an. Sie haben aber mit den Oppositionsparteien, die die Demonstrationen zwar mäßig, aber doch zu instrumentalisieren versuchen, nichts am Hut. Sie aggressiv zu attackieren, entspricht nicht politischer Klugheit und wird nicht zur Deeskalation beitragen.

USA machen Druck auf Kurti

Dass die politischen Drahtzieher hinter den Demonstrationen ihre Forderungen weit über den Anlassfall hinaus ausdehnen und nach Neuwahlen rufen, obwohl die vergangenen Wahlen erst ein Jahr zurückliegen, ist ein durchsichtiges politisches Spiel, das abzulehnen ist. Auch dazu herrscht weitgehende Übereinstimmung: Neuwahlen bringen gar nichts, das Ergebnis würde wohl ungefähr das gleiche sein wie beim letzten Mal.

Eine sehr dramatische Folge hätten solche Neuwahlen freilich: Die derzeit sehr konkrete Chance auf eine weitgehende Lösung oder zumindest konkrete Fortschritte beim Kosovo-Problem würde wieder auf Jahre hinaus verunmöglicht. Ein Wahlkampf für Parlamentswahlen würde wieder eine verschärfte nationalistische Kluft zwischen Serbien und dem Kosovo bringen und alles, woran man jetzt arbeitet, zunichtemachen.

Erstmals haben die USA aus tiefer Verärgerung über die nationalistische Sturheit des kosovarischen Ministerpräsidenten Albin Kurti eine ausgewogene Position eingenommen und machen nun auch auf den Kosovo Druck, die Vereinbarungen einzuhalten. Das betrifft vor allem die bei den Ohrid-Verhandlungen vom heurigen März (mündlich) vereinbarte Schaffung eines Gemeindeverbandes für die serbischen Gemeinden.

Von der serbischen Seite wird jedenfalls jede Vermeidung von Gewalt erwartet, was in einem aufgeheizten Wahlkampf keinesfalls garantiert wäre. Also würde eine der wenigen Chancen auf eine Lösung zerstört. Ob es bestimmte Kräfte hinter den Demonstrationen gibt, die mit solchen Forderungen eine Lösung verhindern wollen, kann man noch nicht sagen.

Wendung in Richtung EU

Währenddessen verweist Vučić lieber auf die Situation im Nord-Kosovo mit seiner serbischen Bevölkerungsmehrheit. Dort geht das Ringen um die Einsetzung von Bürgermeistern weiter. Aus den Lokalwahlen im April, die die Serben boykottiert hatten, gingen bei einer Wahlbeteiligung von nur 3,5 Prozent albanische Kandidaten als Sieger hervor. Bei ihrem Versuch, ihre Posten zu übernehmen, kam es zu Zusammenstößen zwischen serbischen Nationalisten und Kfor-Soldaten. Von serbischer Seite wurde vorgeschlagen, die Wahlen - diesmal unter Beteiligung der Serben - zu wiederholen, was wiederum seitens der Regierung des Kosovo prompt abgelehnt wurde.

Jedenfalls sollte man bei einer Gesamtbeurteilung der aktuellen Situation nicht vergessen, dass Serbien in jüngerer Zeit eine sehr stark spürbare Wendung in Richtung EU vollzogen hat. Es sei daran erinnert, dass sofort nach Beginn des Krieges Russlands gegen die Ukraine der Nationale Sicherheitsrat Serbiens am 25. Februar 2022 - in einem Beschluss, unterzeichnet von Vučić - diesen Krieg aufrichtig bedauerte und als eine wahre Tragödie bezeichnete sowie ausdrücklich auf die konsequente Achtung der Unverletzlichkeit der territorialen Integrität souveräner Länder verwies.

Serbien bekannte sich unmissverständlich zur friedlichen Beilegung von Konflikten und zur Einhaltung der völkerrechtlichen Grundsätze und bezeichnete die Verletzung der territorialen Integrität der Ukraine als sehr falsch. Serbien kündigte auch an, dem ukrainischen Volk jede Art von humanitärer Hilfe zu leisten. Auch wenn Serbien - nicht zuletzt auch aufgrund eigener Erfahrungen und als nicht EU-Mitglied - die Sanktionen der Europäischen Union nicht voll mitträgt, ist es immerhin bereit, der Ukraine Waffenhilfe zu leisten. Und außerdem stimmte Serbien der UN-Resolution gegen den russischen Einmarsch in der Ukraine zu.

Schwierige Erinnerungen

Die Erinnerungen an die Nato-Bombardierungen im Jahr 1999 und die Abhängigkeit vom russischen Gas spalten die Meinung der serbischen Bevölkerung. Dies und die Erinnerung an die Ermordung des früheren serbischen Ministerpräsidenten Zoran Ðinðić im Jahr 2003 durch radikale Elemente machen es für den serbischen Präsidenten nicht gerade leicht, sofort und komplett auf die Linie der USA und der EU einzuschwenken. Immerhin hat er mit Tanja Miščević in die neue Regierung eine überzeugte Europäerin und Fachexpertin als Ministerin für Europäische Integration berufen.

Das sollten vor allem jene westeuropäischen links-liberalen Medien bedenken, die reflexartig gegenüber allem Serbischen nur Kritikwürdiges berichten, die positiven und konstruktiven Bemühungen aber unter den Tisch fallen lassen. Dies und viele rhetorische Aggressivitäten mancher serbischer Exponenten ergeben in vielen EU-Ländern ein völlig verzerrtes Bild, das wiederum deren Engagement für eine raschere Erweiterung hemmend beeinflusst.