Westliche Beobachter attestieren Putin Realitätsverlust - doch stimmt das?
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Wien. Breitbeinig zurückgelehnt, beinahe gelangweilt präsentiert sich Wladimir Putin am Dienstag einigen ausgewählten Journalisten. Er droht, er beschwichtigt. Er doziert, dass die ukrainische Regierung illegitim sei und dass man sich einen Einmarsch auch in den Osten der Ukraine vorbehalte.
Seit russische Eliteeinheiten auf der Krim einmarschiert sind, weiß Putin die Augen der Welt auf sich gerichtet. Der Kremlherr stößt Europa und die USA vor den Kopf; er agiert, während seine überraschten Gegner zur Reaktion verdammt sind, fassungslos und doch halbherzig nach Wegen suchen, wie man den wilden Mann im Kreml bändigen kann. Der dann behauptet, dass sich gar keine russischen Soldaten auf der Krim befinden.
Wollen sie beschnitten sein?
Westliche Beobachter attestieren Putin Realitätsverlust, andere sprechen davon, dass sich Putin seine eigene Welt schaffe. "Die Übertragung von Planet Putin ist vorbei", twitterte etwa der Schweizer "Spiegel"-Reporter Mathieu von Rohr, als der Kremlherr am Dienstag seine Journalisten-Belehrung beendet hatte. Politiker in Brüssel und Washington reiben sich ungläubig die Augen und weisen Putin darauf hin, dass man sich seit geraumer Zeit im 21. Jahrhundert befände. Der Kalte Krieg sei doch längst vorbei, so die Beschwörungs-Formeln.
Und immer wieder wird die - bange - Frage gestellt, wie der russische Präsident tickt.
Der deutsche Journalist Hubert Seipel hat vor einigen Jahren mit Putin Kontakt aufgenommen und ihn an drei Tagen für den Dokumentationsfilm "Ich Putin" interviewt. Seinen ersten Eindruck bescheibt Seipel wie folgt: "Das ist ein eher kleinerer Mann, höflich, freundlich, zugewandt in einem Ausmaße, wie man es kaum glaubt." Dass dem nur bedingt so ist, erfährt man spätestes, wenn man beginnt, Wladimir Putin unangenehme Fragen zu stellen. Etwa die, ob er in Tschetschenien nicht, wie behauptet, den Terrorismus, sondern eventuell auch die Zivilbevölkerung ausrotte. "Wollen Sie ein radikaler Islamist werden und sich beschneiden lassen?", antwortet Putin. "Ich lade sie nach Moskau ein. Wir (...) haben gute Spezialisten. Ich werde jemanden anweisen, Sie so zu beschneiden, dass nichts mehr nachwächst."
Als ehemaliger KGB-Mann weiß Putin, wie man Menschen einschüchtert. Und er weiß, wie man einen charmanten Eindruck vermittelt. Putin beherrsche die Täuschung im Kampf wie kein Zweiter, sagt sein ehemaliger Judolehrer. Putin verfüge über die Macht eines Wunderspiegels, heißt es. Er zeige jedem das Gesicht, das sich dieser erhoffe.
Wenn es jemand wissen will und wenn ihm danach ist, dann erzählt Putin bereitwillig von einer Hinterhofkindheit im sowjetischen Leningrad. Er berichtet, wie er mit seinen Eltern ein 25-Quadratmeter-Zimmer in einem Kommunalbau bewohnte, er erwähnt auch die fehlende Emotionalität in der Familie; die Unfähigkeit, miteinander zu reden. "Jeder lebte irgendwie in sich selbst", sagt Putin. Und dass er mit Judo anfing, als die Anderen begannen, ihm über den Kopf zu wachsen. "Da brauchte ich Instrumente, um meine Stellung im Rudel aufrecht zu erhalten."
In der Tat stammt Putin aus bescheidenen Verhältnissen, das ist nicht inszeniert. Sein Vater war Fabrikarbeiter, überzeugter Kommunist und Veteran des Zweiten Weltkrieges. Die Mutter war ebenfalls Arbeiterin und gehörte zu jenen Leningradern, die die Belagerung der Stadt durch die Nazis überlebt hatten. Zwei ältere Brüder Putins starben als Kinder.
Das Familienoberhaupt führt ein strenges Regiment, die Mutter hingegen wird als milde beschrieben. Und Putin junior arbeitet verbissen an seinem Aufstieg. Er studiert Jus, wird KGB-Offizier, Abteilung Auslandsspionage. Zu seinen frühen Pflichten zählen auch Kontrolle und Unterbindung von Dissidenten-Tätigkeit. Putin kommt in die DDR, wird vom Hauptmann zum Major und dann zum Oberstleutnant befördert. Nach dem Kollaps des Kommunismus geht er zurück nach Russland, wird Sekretär unter Boris Jelzin, schließlich dessen Kanzleileiter. 1999 avanciert er zum Premier, im Jahr 2000 ist er Präsident der Russischen Föderation und am Gipfel angekommen. Er nutzt seine KGB-Kontakte, hievt alte Vertraute in einflussreiche Posten und verwandelt Russland in ein Mittelding zwischen Demokratie und Diktatur.
Politiker mit Mission
Der Zerfall der Sowjetunion hat Putin traumatisiert und sein Politikverständnis geprägt. "Wer den Untergang der Sowjetunion nicht bedauert, hat kein Herz. Wer sie aber wiederherstellen will, hat keinen Verstand", lautet das Credo, das vieles erklärt. Dabei verfolgt Putin seine Ziele nicht nur mit eiserner Disziplin, sondern auch mit berechnender Brutalität. Die hat er nicht nur im Tschetschenien-Krieg unter Beweis gestellt. Nie werden die Russen vergessen, wie Putin nach dem Untergang der Kursk ungerührt weiter urlaubte. Zuletzt hat wiederholt durchblicken lassen, dass er auf Demonstranten schießen lassen würde, wenn diese - wie in der Ukraine - an den Grundfesten der politischen Machtverhältnissen rütteln würden.
Putin inszeniert sich als kampfbereiter Sportler, sei es im Judo-Gewand, mit nacktem Oberkörper auf einem Pferd oder mit der Angel in der Hand. Zu deutlich hat er seinen früheren Chef Boris Jelzin vor Augen - ein Alkoholiker, der bei Staatsempfängen für peinliche Momente sorgte. Etwa, als er versuchte, in Berlin ein Polizeiorchester zu dirigieren oder bei einem GUS-Gipfeltreffen Kirgisiens Staatsoberhaupt Akajew mit zwei Löffeln auf dessen Glatze schlug. Für Putin ist Jelzin Symbol der Schande, des allgemeinen Niedergangs; Protagonist einer Epoche persönlicher und nationaler Erniedrigung. Eine Schmach, die Putin, Boxer, Judoka und Träger des Schwarzen Gürtels, auf jeden Fall ausmerzen will. Das bekommt die Ukraine jetzt zu spüren.