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Am 30. Dezember ist die Auschwitz-Überlebende und Ärztin Ella Lingens im 95. Lebensjahr in Wien gestorben. Sie war eine der wenigen Österreicher, die von der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem mit dem Ehrentitel einer "Gerechten der Völker" ausgezeichnet wurde. Ihre Hilfe für untergetauchte Juden büßte sie mit mehr als zwei Jahren Haft, unter anderem in den Konzentrationslagern Auschwitz und Dachau.
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Als die Hitler-Truppen im März 1938 Österreich besetzten, standen die damals 30-jährige Ella Lingens und ihr aus Deutschland stammender Mann vor der Frage, ob sie auswandern oder hierbleiben sollten. In einem 1966 veröffentlichen schmalen Bändchen "Eine Frau um Konzentrationslager" schilderte Ella Lingens das damalige Dilemma: "Sollen wir unsere Heimat wirklich denen überlassen?" "Gut, wir bleiben hier, aber unter einer Bedingung: Wir werden keinem, der von dem Regime verfolgt wird und uns bittet, ihm zu helfen, je unsere Hilfe verweigern".
Die Gelegenheit, dieses Gelöbnis einzuhalten, sollte schon bald kommen. Als im November 1938 der Nazipöbel in Wien ganz besonders brutal gegen die jüdische Bevölkerung vorging, beherbergten die Lingens in ihrer Wohnung zehn jüdische Freunde. In der Zeit danach halfen sie Freunden bei der Auswanderung und unterstützten deren zurückgebliebene Eltern. Als 1942 die Deportierungen begannen, war es für sie selbstverständlich, sogenannten jüdischen "U-Booten" beizustehen, bis sie Ende des Jahres selbst in die Fänge von Gestapo und SS gerieten.
Vier Monate wurde Ella Lingens, die man von ihrem kleinen Sohn getrennt hatte, im Wiener Gestapo-Hauptquartier am Morzinplatz festgehalten, weil man hoffte einer größeren Organisation auf die Spur zu kommen. Als sich diese Erwartungen nicht erfüllten, wurde sie im Februar 1943 nach Auschwitz deportiert, wo sie als Häftlingsärztin eingesetzt war und mit unzureichenden Mitteln half, wo nur irgendeine Möglichkeit bestand. "Wer nicht in Auschwitz war, wird niemals wirklich wissen können, was Auschwitz war", schrieb Ella Lingens später in ihrem Erinnerungsbuch, in dem sie auch von den Schuldgefühlen der Heimgekehrten berichtet, Schuldgefühle, die es immer nur auf der Seite der Opfer, nie auf jener der Täter gab: "Lebe ich, weil die anderen an meiner Stelle gestorben sind? Weil ich ein Bett mit zwei Decken für mich allein hatte, obwohl ich wusste, dass Frauen zu viert in einem anderen mit einer einzigen Decke lagen und niemals wirklich schlafen konnten? Weil ich eine doppelte Brotration essen konnte, da die Kranke, für die der Block die ihre noch gefasst hatte, sie in ihrer tiefen Bewusstlosigkeit vor dem Tod nicht mehr essen konnte? Weil eine dankbare Patientin aus der Effektenkammer warme Filzstiefel für mich organisiert hatte, während die Masse der Frauen sich die erfrorenen Füße in den schweren Holzschuhen wund scheuerte? Weil ich eine Funktion hatte, die ein Teil des Apparats war, den die SS geschaffen hatte, damit das Lager nicht in einem Chaos versank, aus dem keinerlei Leistung mehr herauszuholen gewesen wäre; weil wir den Machthabern in all unserer Armseligkeit unentbehrlich waren und sie deshalb auf unser Überleben Wert legten und wir so ein Rädchen darstellten in dieser ungeheuren Vernichtungsmaschinerie?"
Als Ärztin stand Ella Lingens oft vor dem Dilemma, wem sie die wenigen Medikamente verabreichen sollte, die zur Verfügung standen, "der Mutter, Ende vierzig, auf die noch Kinder daheim warteten, oder lieber dem jungen Mädchen, das das ganze Leben noch vor sich hatte?" "Manchmal stand ich wie benommen da und blickte über diese schmutzigen, stöhnenden, hungrigen , um ihr Leben kämpfenden Menschen hin, in diese Hölle, in der wir verdammt waren, zu leben".
Als Auschwitz evakuiert wurde, kam auch Ella Lingens mit auf den Marsch und landete in Dachau und nur das Kriegsende verhinderte, dass sie "wegen konstanter Frechheit und politischer Hetzerei" - wie es in dem Überstellungsbefehl hieß, den man nach der Befreiung fand - in das berüchtigte Konzentrationslager Bergen- Belsen kam.
Nach der Befreiung musste sich Ella Lingens nach Wien zurückgekehrt, in ihrem neuen Leben erst zurechtfinden. Ihre Ehe war gescheitert, ihr Kind war ihr entfremdet. Beruflich machte sie im Sozialministerium als Leiterin des Tuberkulosereferats Karriere und ging 1973 als Ministerialrätin in Pension. Lebenslange Aufgabe blieb ihr aber jene als Mahnerin, dass Zeiten wie jene, die sie durchlebt und durchlitten hatte, niemals wieder kommen dürfen. Sie galt als Symbol für das andere Österreich, das mit Mitmenschlichkeit und Anstand durch die NS-Jahre gegangen ist.
Ella Lingens wurde in der Vorwoche in einem ehrenhalber gewidmeten Grab auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt.