Gestürzter Staatschef wegen Anstiftung zum Mord angeklagt.
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Kairo. Er kam doch: "Ich bin der legitime Präsident Ägyptens, und Sie sind ein Teil des Putsches gegen mich", schleuderte er den Richtern ins Gesicht. Im Anzug und nicht in der üblichen Häftlingskleidung erschien am Montag ein aufgeräumt und gefasst wirkender Mohamed Mursi, der mit 14 Mitangeklagten der Anstiftung zu Mord und Gewalt beschuldigt wird, vor Gericht. Nur der Bart schien weißer geworden zu sein. Seit seinem Sturz Anfang Juli war der Ex-Präsident in der Öffentlichkeit nicht mehr gesehen worden. Eine halbe Stunde lang wurde darüber gestritten, ob Mursi im Anzug verbleiben könne, während die anderen Angeklagten im für ägyptische Gerichtsverhandlungen üblichen Käfig lange weiße Gewänder trugen.
Äußerlichkeiten sind am Nil wichtig und werden leicht zur Symbolik. So auch beim ersten Prozesstag. Chaotische Szenen spielten sich ab. Anwesende im Saal stiegen auf die Bänke, winkten mit Schuhen, ein Zeichen der Erniedrigung, und schrien sich an. Als der Tumult immer heftiger wurde und der Lärm unerträglich, unterbrach der Richter die Sitzung zwei Mal und vertagte schließlich auf Anfang Jänner nächsten Jahres.
Bis zum Schluss war unklar, ob der Hauptangeklagte überhaupt vor Gericht erscheinen würde. Stets lehnte Mursi das Verfahren als illegal ab, wollte keinen Verteidiger akzeptieren. Sein Entschluss, das Forum und das enorme internationale Interesse an dem Prozess dann doch für seine Botschaft zu nutzen, brachte die Verantwortlichen in erhebliche Bedrängnis. In buchstäblich letzter Minute wurde am Tag vor dem Prozessauftakt alles auf den Kopf gestellt und das Verfahren kurzerhand in die Polizei-Akademie außerhalb von Kairo verlegt, wo auch Mubarak vor Gericht steht. 20.000 Soldaten wurden zusätzlich bereitgestellt, um die Sicherheit zu garantieren. Wie schon Mubarak, wurde auch Mursi mit einem Hubschrauber zum Gerichtsgebäude geflogen.
Angst vor Ausschreitungen
Ursprünglich sollten dem gestürzten Präsidenten und weiteren 14 Muslimbrüdern unweit des Tora-Gefängnisses im Stadtteil Maadi der Prozess gemacht werden, wo Mursis Mitangeklagte in Untersuchungshaft einsitzen. Über seinen Aufenthaltsort herrscht weiterhin strikte Geheimhaltung. Beobachter gehen aber davon aus, dass auch Mursi in Maadi festgehalten wird. Doch Maadi ist ein Wohnbezirk, in dem viele Ausländer wohnen und schicke Villen von Ägyptens Reichen stehen. Der Aufruf von Mursi-Anhängern, gegen den Prozess zu demonstrieren, dürfte die Sicherheitskräfte aufgeschreckt haben. Eine Verwüstung Maadis sollte unbedingt vermieden werden. Die Polizei-Akademie im neu entstandenen Bezirk Al-Tagammu al-Khamis erschien deshalb als geeigneter. Sie ist leichter zu kontrollieren als das Gericht im verwinkelten Maadi. Das Gelände vor dem Gebäude ist weitläufig, die Zufahrtsstraßen sind übersichtlich. So kamen die meisten Pro-Mursi-Demonstranten auch erst dort an, als alles schon vorbei war.
Sahar Talaat war allerdings schon früh vor dem Gerichtsgebäude. Denn was der Journalistin am 5. Dezember 2012 widerfuhr, ist Gegenstand der Anklage gegen Mursi und die 14 anderen. Talaat erwartet nun Gerechtigkeit. Ihre Aussage ist Teil der 700 Seiten umfassenden Anklageschrift, die die Staatsanwaltschaft dem Gericht vorgelegt hat und die nun ruhen muss, bis der nächste Verhandlungstermin stattfindet.
Am Tag vor dem denkwürdigen Wendepunkt für Mursi und seine Muslimbrüder gab es die ersten Massendemonstrationen gegen den neuen ägyptischen Präsidenten. Die Menschen versammelten sich am Tahrir-Platz und zogen von dort weiter in den Stadtteil Heliopolis, wo die ägyptischen Staatschefs ihren Sitz haben. Mursi hatte sich kurz zuvor uneingeschränkte Vollmachten per Dekret zugestanden, eine neue, islamisch geprägte Verfassung sollte dem Volk bald zur Abstimmung vorgelegt werden. Seit seinem Amtsantritt Ende Juni lieferte sich der Präsident mit der Justiz einen erbitterten Machtkampf und die Islamisten dominierten das Verfassungsgremium. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Mursi-Gegnern und Mursi-Anhängern begannen. Und Sahar Talaat war mittendrin. Um 10 Uhr morgens kam sie am Regierungspalast an, um Interviews für den französischen Auslandssender RFI (Radio France Internationale) zu machen und die Lage in Heliopolis zu erkunden. "Es waren etwa sieben bis zehn Zelte vor dem Eingang des Ittihadiya aufgeschlagen", erinnert sich die 45-jährige Radiojournalistin, "erst später schwoll die Menge an."
Schläge für Journalistin
Den ganzen Tag über war das RFI-Team vor Ort, aber erst am Abend spitzte sich die Lage zu, als Mursi-Anhänger mit Bussen aus der Provinz kamen, um "ihren Präsidenten zu verteidigen", wie Talaat zu hören bekam. Viele trugen Schlagstöcke, Helme und Plastikbeutel. "Ich weiß nicht, was da drin war, aber es waren viele, viele Plastikbeutel." Ob die Anhänger Muslimbrüder waren oder anderen islamistischen Gruppen angehörten, konnte Talaat nicht ausmachen. "Jedenfalls bauten sie Barrikaden um den Palast herum, damit die Gegner nicht eindringen konnten." Bald flogen Steine, Brand- und Stinkbomben. Die Lage spitzte sich immer mehr zu. "Mit Stöcken schlugen sie auf mich ein, auf den Kopf, auf den Rücken, überall." Sie habe geschrien, dass sie doch Journalistin sei. Doch das half nichts. "Gerade deshalb bekommst du noch eine", sollen ihre Peiniger entgegnet haben. Als einer mit einem großen Stein kam, verlor Talaat das Bewusstsein.
Als die Ägypterin im Krankenhaus wieder aufwachte, war das Nasenbein gebrochen, sie hatte Blutergüsse an Schultern und Armen und das linke Bein schmerzte bestialisch. Fast 300 Personen wurden in jener Nacht verletzt, elf starben. "Der Prozess ist wie eine Heilung für mich", kommentierte sie mit fester Stimme und stellte sich in die Reihe derer, die auf Einlass in die Polizeiakademie warteten. Sahar Talaat wird den Prozess für RFI verfolgen - und in eigenem Interesse.