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Breitbeinig stehen sie vor dem Klostertor und beäugen die Besucherschar. Zwei kurdische Dorfwächter in braun-grünen Uniformjacken, mit je einem Gewehr um die Schulter, haben sich vor dem syrisch-orthodoxen Kloster Mor Gabriel im Südosten der Türkei aufgebaut. Sie signalisieren: Wir beobachten alles; wenn uns etwas nicht passt, sorgen wir für Ordnung; und wenn wir wollen, nehmen wir das Gesetz in die eigene Hand. | Das Massaker bei einer Verlobungsfeier in Bilge, rund 70 Kilometer vom Kloster entfernt, lenkte die Aufmerksamkeit einmal mehr auf das System der Dorfwächter, das der Staat selbst geschaffen hat. In dem Ort, wo ein paar Männer 44 Menschen getötet haben, verdingten sich viele als Dorfwächter. Die Gewehre und Handgranaten für die Morde könnten von der türkischen Armee stammen.
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Es war kein Terrorakt, kein politisches Attentat, sondern wohl eine Familienfehde. Dennoch hat das Ereignis eine politische Dimension, die über die Türkei hinausgeht und bis nach Brüssel reicht. Das Land bemüht sich nämlich um die Aufnahme in die Europäische Union, und das Massaker zeigt, wie viel es noch auf dem Weg dorthin zu erledigen gibt.
In den vergangenen Jahren hat sich die türkische Regierung um etliche Reformen bemüht. Die Wirtschaft wurde gestärkt, Gesetze zur Durchsetzung von Frauenrechten wurden geschaffen, ein kurdisches 24-Stunden-Programm im staatlichen Fernsehen ist auf Sendung gegangen.
Eines der größten sozialen Probleme ist allerdings ungelöst geblieben: Die Kurdenfrage reißt nach wie vor eine tiefe Kluft - wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch. Es geht nicht nur um die jahrzehntelange ökonomische Vernachlässigung Ost- und Südostanatoliens, sondern auch um das Unrecht, das einer Volksgruppe angetan wurde. Viele Kurden fragen sich, wie sie einem Staat vertrauen sollen, der ihnen lange Zeit die Verwendung ihrer Sprache verboten hat, den sie für Folter, Morde und Vertreibung verantwortlich machen.
Hinzu kommen jahrhundertealte feudale Verhaltensmuster wie Blutrache und Ehrenmorde. Dann wird auch noch eine paramilitärische Einheit geschaffen: die Dorfwächter, welche die türkische Armee im Kampf mit der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) unterstützen sollen und die sich mit den Waffen vom Militär mächtig fühlen.
Dieses Klima der vermeintlichen Rechtslosigkeit - das von der EU nur leise kritisiert wird - muss ein Rechtsstaat bekämpfen, mit wirtschaftlichen, sozialen und Bildungsmaßnahmen. Das gehört zu den demokratischen Standards, die die Türkei als potenzielles EU-Mitglied erfüllen muss.
Doch die Mentalität von Menschen zu ändern, dauert nicht nur ein paar Jahre, sondern vielleicht zwei Generationen. Das muss der Türkei, aber auch der EU bewusst sein.