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Ein Facelifting mit Schattenseiten

Von WZ-Korrespondent Tobias Müller

Europaarchiv
Die Prostituierten in den Schaufenstern waren seit jeher ein Tourismusmagnet. Foto: ap

Amsterdam hat seit 2008 ein Viertel seiner Bordelle durch Designerläden ersetzt. | Der Erfolg der Glamour-Kur ist aber mehr als umstritten. | Amsterdam. Als Claudia an einem kalten Morgen nur in schwarzer Reizwäsche auf die Straße tritt, kann sie sich vor Interessenten kaum retten. Alles drängt sich um sie, während sie auf hohen Absätzen ein paar Meter über das alte Pflaster klappert.


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Es geht zu wie in einem Taubenschlag. Nun, eigentlich ist es das auch, denn es sind just die graublauen Vögel, die Claudia in Hüfthöhe um die Strapse flattern. Jede Bewegung der Prostituierten löst ungeduldiges Gegurre aus. Sie schüttelt und schüttelt, bis der Plastikbeutel leer ist und der Boden vor ihrem Schaufenster über und über mit Brotkrumen bedeckt. Schnell geht Claudia zurück. Hinter der Scheibe beobachtet sie, wie die Tauben ihre Mahlzeit beenden. Dann kehrt Ruhe ein. Der größte Ansturm des Tages ist schon vorbei.

An einem Dienstagvormittag im Winter fuhren Sexarbeiterinnen noch nie Spitzenverdienste ein. Nicht einmal in Amsterdam, der Stadt, die wie kaum eine andere bekannt ist für ihr Rotlichtviertel. Auch nicht, als die Zeiten besser waren. Ein lauer Morgen in der touristenschwachen Saison ist aber nicht das Problem. Denn auch sonst läuft das Geschäft nicht mehr auf den "Wallen", dem alten Hafenkiez der niederländischen Hauptstadt. "Die Krise", sagt Claudia, die vor zwei Jahren aus der Dominikanischen Republik hierher kam. Nicht, um als Prostituierte zu arbeiten. Sie hatte andere Pläne, doch die Dinge liefen nicht wie geplant. Claudia geriet in Geldprobleme, und nun, mit Anfang 40, verkauft sie eben ihren Körper, um Geld nach Hause zu schicken.

Neu, schick und leer

Die Krise allein aber erklärt den Blues im Puff-Viertel kaum. Man muss zurück ins Jahr 2008 gehen. Damals beschloss der Gemeinderat Amsterdams, den Wallen ein tiefgreifendes Facelifting zu verpassen. Eine Glamour-Kur für das weltbekannte Schmuddelkind sollte es werden, eine Stadtteilaufwertung, die Galerien, Lounges und spektakuläre Gastronomie an die Stelle der angeblichen "Monokultur" aus Sex, Coffeeshops und billigen Imbissbuden setzt. Diese Branchen, so hieß es, seien "kriminogen" und latent in den Geldwäschezyklus des organisierten Verbrechen eingebunden. Zudem würde die Mehrzahl der Prostituierten nicht freiwillig auf den Wallen arbeiten. Frauenhandel und Zuhälterei sind laut Bürgermeister Job Cohen auch hier ein nicht zu vernachlässigendes Problem. Ganz "dichtmachen" will man den Kiez, den jeder Reiseführer als Pflichtprogramm bei einem Amsterdam-Besuch ausweist, keineswegs. Wohl aber, so gibt der Aktionsplan der Stadt Auskunft, "die Zahl der Prostitutionsfenster substantiell verringern".

Drei Jahre später ist daraus Realität geworden: 81 der 371 rot erleuchteten Schaufenster, in denen die Frauen tanzend und sich räkelnd der Akquise nachgehen, sind inzwischen geschlossen. Zweistellige Millionensummen hat die Stadt eingesetzt, um einige Big Player aus der Branche der Zimmervermieter auszukaufen. In den frei gewordenen Räumlichkeiten siedelte sie junge Designer an, die nur Strom und Wasser, aber keine Miete bezahlen müssen, sodass zwischen den knapp bekleideten Prostituierten Puppen in grell strahlendem Licht nun extravagante Mode vorführen. Wer ein paar Jahre nicht hier war, erkennt die Wallen kaum wieder. Für die gefühlte Sicherheit schlendern Polizisten in Neonwesten paarweise durch die Gassen. Auch heller ist es geworden - und leerer. War es hier, wo man nachts kaum einen Fuß vor den anderen setzten konnte?

Blechern klingt billiger Latinopop aus dem altmodischen Radiorecorder. Der Arbeitsplatz der Brasilianerin Brenda hat nicht mehr als die Basis-Ausstattung. Pritsche, Waschbecken, ihre Tasche mit ein paar Kleidern steht in der Ecke. "Zuerst zahlte ich 50 Euro für dieses Zimmer, dann 75, inzwischen 100", erzählt Claudias Nachbarin. Sie arbeitet nur tagsüber. Der Nachtpreis liegt bei 130 Euro. Vor ihrem Schaufenster erhebt sich der Turm der Oude Kerk in den Himmel.

Viele ungelöste Fragen

Die mittelalterliche Kirche war einst ringsum von Rotlichtvitrinen umgeben. In den Plänen der Stadt spielt sie eine Schlüssel-Rolle. Das 700 Jahre alte Gebäude soll der Star in diesem Teil des Viertels werden, nicht mehr die käuflichen Damen in seinem Schatten. Schlussendlich soll der Kirchplatz prostitutionsfrei werden. "Schau dich mal um hier", sagt Brenda. "22 Fenster haben sie schon geschlossen. Werden es noch mehr, muss ich mir einen neuen Platz suchen."

Der Platz allerdings wird knapp auf den Wallen. Im Herbst erschien eine Studie über die Folgen des Aufwertungsprojekts für die Prostituierten. Die Konkurrenz ist gestiegen, der Preisdruck auch, ebenso wie die Abhängigkeit von den Vermietern. Sollten, wie die Gemeinde es will, noch mehr Fenster verschwinden, verstärken sich diese Effekte. Ungeklärt ist freilich auch die Frage, wohin die von den gut kontrollierbaren Wallen verdrängten Prostituierten abwandern werden. Bordelle in den Gewerbegebieten, Hotel-Lobbys oder auch die Straße scheinen aber als wahrscheinlichste Alternativen.

Sorgen haben aber nicht nur die Sexarbeiterinnen. Auch die Handelskammer der Stadt fürchtet Umsatzeinbußen. Ihrer Ansicht nach kommen viele schaulustige Touristen vor allem auch wegen des Rotlichtviertels nach Amsterdam.

"Wenn es so weitergeht, ist Schluss hier", macht sich auch Brenda keine Illusionen. "Aber ich glaube an Gott. Er wird mir schon einen Ausweg zeigen." Ob sie bereits erhört wurde? Kürzlich jedenfalls signalisierte der Stadtrat, aus Geldmangel vorerst keine weiteren Fenster aufzukaufen.