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Ein "failed state" namens Mexiko?

Von WZ-Korrespondent Klaus Ehringfeld

Analysen

Trotz des Einsatzes tausender Soldaten verliert der Staat im Norden die Kontrolle. | Die Drogenkartelle erzwingen Rücktritte von Bürgermeistern. | Beziehungen der Mafia zur Wirtschaft werden ignoriert. | Mexico-City. Es ist ein paar Monate her, da hob die lokale Presse in Ciudad Juárez eine ungewöhnliche Nachricht auf ihre Titelseiten: "Ein Tag ohne Tote". Was zynisch klingt, war lediglich eine nüchterne Bestandsaufnahme. Denn in der windigen und staubigen Wüstenstadt an der Grenze zu den USA, die eine Brücke mit dem texanischen El Paso verbindet, werden im Drogenkrieg seit Jahren täglich mehr als ein Dutzend Menschen getötet: Sie werden erschossen, enthauptet, in schwarze Säcke gesteckt oder einfach auf dem Müll verbrannt. Die einzige Frage, die sich die Einwohner von Ciudad Juárez morgens stellen: Wie viele Menschen verlieren heute ihr Leben?


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Die Grenzstadt im Norden, in die derzeit weitere 5000 Soldaten geschickt werden, um der Situation Herr zu werden, steht für den zweifachen unerklärten Krieg des Landes: zwischen dem mexikanischen Staat und der organisierten Kriminalität und zwischen den Rauschgiftkartellen untereinander. 5600 Todesopfer zählte die zweitgrößte lateinamerikanische Volkswirtschaft - in der auch viele westeuropäische Unternehmen produzieren - im vergangenen Jahr.

Mittlerweile wird offen diskutiert, ob Mexiko auf dem Weg zum "failed state" - zum gescheiterten Staat - ist. Anfang Jänner nannte das US-Verteidigungsministerium das Nachbarland in einem Atemzug mit Pakistan und bezeichnete es als "nationales Sicherheitsrisiko". Mexiko, das über Jahre das Muster-Schwellenland Lateinamerikas war, mit stabilen Regierungen, hervorragenden makroökonomischen Daten, Dutzenden von Freihandelsverträgen und politischen Aspirationen auf der Weltbühne, verspielt seinen internationalen Ruf und wird vom Land der Palmen und Pyramiden zum Land der Kartelle und Killer. Zwar macht sich die Sicherheitslage noch nicht in zurückgehenden Investitionen bemerkbar, aber Wirtschaftsvertreter registrieren zunehmende Nervosität bei Unternehmern.

Drogen und Waffen

Das organisierte Verbrechen hat solche Ausmaße angenommen, weil der Staat schwach ist und explizite oder taktische Allianzen zwischen Politik, Unternehmern und dem Verbrechen existieren. In manchen Bundesstaaten steckt in mehr als der Hälfte der Firmen Drogengeld.

Experten raten der Regierung, die bisher vor allem auf das Militär und die Polizei setzt, zu einem dramatischen Kurswechsel: Der Staat muss nicht nur die bewaffneten Arme der Kartelle und ihre Chefs ins Visier nehmen, sondern auch die Finanznetze zerstören und die Korruption in Politik, Justiz und Polizei unterbinden. Doch gerade hier tut die Regierung zu wenig.

Vier große Mafiaorganisationen kämpfen in Mexiko um den Binnenmarkt und die profitablen Transit routen für Rauschgift in die USA. Neben dem Tijuana- und dem Golf-Kartell sind dies vor allem die auch in Südamerika operierenden Kartelle von Sinaloa und Juárez. Nach Erkenntnissen der US-Drogenfahnder ist Mexiko das bedeutendste Drehkreuz für Rauschgift mit dem Ziel USA. 90 Prozent des dort konsumierten Kokains kommen über Mexiko ins Land. Zudem versorgen die Kartelle den US-Markt mit 9000 Tonnen Marihuana, 17 Tonnen Heroin und einer unbekannten Menge an synthetischen Drogen.

Aber die Mafiosi handeln längst nicht mehr nur mit Drogen. Sie verschieben Waffen und Menschen, entführen, erpressen und dominieren das Geschäft mit Raubkopien. Die Jahresumsätze aller illegalen Geschäftstätigkeiten zusammen schätzen Experten auf jenseits der 100 Milliarden Dollar. Dies entspricht zehn Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts.

Der konservative Präsident Felipe Calderon hat nach seiner Wahl vor zwei Jahren den Kampf gegen die Mafias zu seinem Hauptanliegen gemacht. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt sandte er 36.000 Soldaten und Bundespolizisten aus, um mit dem Einsatz von Waffen Frieden zu schaffen. An manchen Orten gleicht Mexiko einem besetzten Land - eingenommen von den eigenen Truppen.

Gefährliche Wahlen

Doch die Strategie, auf die Gewalt mit Gegengewalt zu antworten, ist gescheitert. In den ersten 51 Tagen dieses Jahres zählte die Statistik bereits 1003 Tote im ganzen Land. So viele waren im vergangenen Jahr erst Ende April gezählt worden und 2006 erst zur Jahresmitte. Mexiko ist inzwischen eines der gefährlichsten Länder der Welt. Weite Teile des Landes, hauptsächlich Bundesstaaten im Norden nahe der US-Grenze, sind inzwischen der Kontrolle des Staates entzogen. Vor zwei Wochen warf in Ciudad Juárez der zweite Polizeichef binnen eines Jahres angesichts der Drohungen der Mafia das Handtuch. Anfang Februar wurde in Cancun, dem wichtigsten Touristenzentrum Mexikos, ein General gefoltert und ermordet, worauf die Streitkräfte einrückten: Sonne, Strand, Soldaten. Kaum etwas ist schädlicher für den Ruf eines Landes, für das der Tourismus mit Einnahmen von 13 Milliarden Dollar die drittwichtigste Devisenquelle ist.

Mexiko als Ganzes ist noch kein gescheiterter Staat. Aber der Weg dahin ist eingeschlagen, auch wenn die Regierung das Gegenteil behauptet. Dabei muss man Calderón zugute halten, dass er ein Problem geerbt hat, vor dem die Regierungen Jahrzehnte die Augen verschlossen. Die Präsidenten der Partei der Institutionalisierten Revolution, die Mexiko 70 Jahre regierte, paktierten mit den Kartellen. Erst Calderons - ebenfalls konservativer - Vorgänger Vicente Fox brach den Pakt. Aber Calderón hat die falschen Schlüsse gezogen, indem er nur aufs Militär setzt.

Die Macht und der Einflussbereich der Kartelle könnte jedenfalls schon bald größer werden. Im Juli finden in Mexiko Parlaments- und Gouverneurswahlen statt und Experten schätzen, dass in mindestens zwei Bundesstaaten Kandidaten gewinnen könnten, die von der Mafia finanziert werden.