Es ist seit mehr als 17 Jahren das gleiche Ritual, und doch war diese Woche alles anders: US-Notenbankchef Alan Greenspan (79) ist auf Abschiedstour - sein halbjährlicher Wirtschaftsausblick im Kongress dürfte der letzte gewesen sein.
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Als Greenspan am Mittwoch im Zimmer 2128 des Rayburn-Gebäudes in Washington zum 35. Mal seine zerbeulte Aktentasche auf den Tisch legte, kam im Finanzausschuss des Repräsentantenhauses richtig Wehmut auf. "Ihre Wirtschaftsanalyse war immer der Höhepunkt in unserem Kalender gewesen", versicherte der Ausschussvorsitzende Michael Oxley. "Sie sind einfach eine der mächtigsten Personen der Welt und einer der besten Staatsdiener, die es gibt", meinte Christopher Shays.
Der spröde Greenspan nahm die Huldigungen mit einem knappen "Thank you" entgegen, und widmete sich der Materie. In gewohnt verklausulierter Manier dozierte er über Inflationsdruck, Fiskaldruck und Reallöhne, Risikoprämien, langfristige Zinsen und "Schaum im Immobilienmarkt". "Wir werden Sie vermissen", sagte der Abgeordnete Paul Gillmer, der wie die anderen seit Jahren und meist vergeblich versuchte, Greenspan aus der rhetorischen Reserve zu locken.
Brad Sherman will Greenspans Abgang gar nicht hinnehmen und kündigte einen Gesetzentwurf an, der weitere fünf Amtsjahre möglich machen würde. "Weiß meine Frau davon?" witzelte Greenspan. Am 31. Jänner läuft seine nicht verlängerbare Amtszeit als Mitglied der Notenbank aus. Das Weiße Haus hat schon versucht, ihn wenigstens zu ein paar weiteren Monaten zu bewegen. "Es wird schwierig, angemessenen Ersatz zu finden", sagte Präsident George W. Bush. Theoretisch könnte Greenspan bleiben, bis ein Nachfolger ernannt ist, doch soll er Freunden schon gesagt haben, dass Ende Jänner tatsächlich Schluss sein soll.
In seiner Amtszeit erlebte Greenspan vier Präsidenten, zwei Rezessionen und die längste Aufschwungphase der Nachkriegszeit. "Magier der Märkte" wurde er genannt, weil er die Wirtschaft relativ schadlos um die schwierigsten Kliffs bugsierte. "Orakel von Washington" ist auch einer seiner Titel. Weil Greenspan weiß, dass seine Worte an den Finanzmärkten Beben auslösen können, legt er vorzugsweise die Stirn in Falten, verzieht die Miene nicht und wartet dann mit kompliziertesten Satzgebilden auf.
Wer Greenspans Nachfolger werden könnte, wird schon heiß diskutiert. Der Vorsitzende des präsidentiellen Wirtschaftsrates, Ben Bernanke, (51), gilt als einer der heißesten Anwärter.
Im Kongress mag sich nach mehr als 17 Jahren und 35 halbjährlichen Konjunkturberichten keiner mit dem Gedanken an ein neues Gesicht anfreunden. Das machte der Abgeordnete Steven Pearce in seiner Würdigung deutlich. "Alle Adjektive sind aufgebraucht, so will ich meine Stimme denen Ihrer Bewunderer hinzufügen, die Sie für einen gut aussehenden Mann halten", sagte er. Darauf ließ Greenspan, dessen verkniffener Blick als Markenzeichen gilt, tatsächlich ganz kurz locker und lachte mit. dpa