Es ist immer spannend, die allereinfachsten Fragen zu stellen. Etwa die nach dem Sinn des Lateinamerika-Gipfels, der derzeit in Wien stattfindet.
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Gewiss: Österreich darf so viele Präsidenten und Regierungschefs begrüßen wie nie zuvor. Gewiss: Man kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass Österreich seine Gastgeberrolle exzellent erfüllen wird (auch wenn Verkehrsstaus viel Zorn auslösen werden).
Hinter all dem bleibt aber der eigentliche Zweck der Veranstaltung schleierhaft. Der Verdacht ist groß, dass sie nur deshalb stattfindet, weil man einmal beschlossen hatte, solche Gipfel regelmäßig abzuhalten, und weil die internationale Diplomatie schon im bloßen Zustandekommen eines Politikertreffens eine ausreichende Sinnstiftung sehen will.
Die einstige Hoffnung der Südamerikaner, dass Europa ein Gegengewicht zu den in ihrer Region besonders dominierenden USA wird, ist längst als Wunschdenken entlarvt. Europa ist - wie etwa auch im Nahostkonflikt - lediglich in der Lage, die Rolle des Big spenders zu spielen. Zu einem eigenständigen, kraftvollen und konsistenten Agieren ist die EU leider nirgendwo imstande.
Sie ist aber geradezu ein Muster an Kohärenz, vergleicht man sie mit den Lateinamerikanern. Diese haben nicht einmal eine einheitliche Freihandelszone zusammengebracht, sondern sind völlig zerstritten. Zwar stehen sie heute ziemlich einheitlich links, aber die Zahl der internen Konflikte ist größer denn je: Sie reichen von gegenseitigen Enteignungen bis hin zu Grenzblockaden wegen großer Fabriksbauten. Lateinamerika hat heute nicht einmal mehr die USA als einigendes Feindbild, seit sich diese (ausgenommen Kolumbien) weitgehend zurückgezogen haben.
Der alte Schmäh, alle Probleme "Kolonialismus und Neoliberalismus" in die Schuhe zu schieben, wirkt in einem rot regierten Kontinent ziemlich skurril. Er reicht nur für den obligaten Gegengipfel, auf dem man primär gegen alles ist und Rezepte verkündet, die so hilfreich zur Bekämpfung der Armut sind wie einst die des Kommunismus.
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