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"Ein Franzose erklärt den Amerikanern Trumps Sieg"

Von Saskia Blatakes

Politik

Der Philosoph Alain Badiou, über das Siechtum der Sozialdemokratie und die globale Oligarchie.


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Alain Badiou im Interview mit Saskia Blatakes in den Räumen des Passagen-Verlags.
© Stanislav Jenis

Wien. Mit politischem Widerstand kennt sich Alain Badiou aus. 1968 engagierte sich der Philosoph als Teil der Pariser Studentenproteste. In seinen zahlreichen Büchern schrieb er seitdem unter anderem über Mathematik, die Liebe und Donald Trump. Zur Zeit des Wahlsiegs weilte er in den USA und hat seine Erlebnisse in einem neuen Buch verarbeitet, das er jüngst in Wien vorgestellt hat. Badiou ist überzeugter Kommunist geblieben und obwohl er nicht deren Bekanntheit erreicht, hat er linke Denker wie Slavoj Zizek maßgeblich beeinflusst. Mit viel Verve und einem gelassenen Humor spricht er im Interview mit der "Wiener Zeitung" über das Ende der Linken und das Glück in Zeiten des Kapitalismus.

"Wiener Zeitung":Herr Badiou, was ist wahres Glück?

Alain Badiou: Glück ist, wenn einem etwas gelingt, das man für unmöglich gehalten hat. Die Folge ist, dass einem die Welt plötzlich größer und weiter erscheint als vorher. Das Gefühl des Glücks unterscheidet sich deutlich vom scheinbaren Gefühl der konsumierenden Zufriedenheit.

In der Philosophie gibt es die alte Ansicht, der Mensch sollte eher seine Wünsche der Realität anpassen, statt andersrum. Bei den Stoikern geht es um das gelassene Hinnehmen des Unvermeidlichen und diese Ansicht ist immer noch sehr dominant. Das kleine Konsumentenglück mit Haus, Urlaub und Internetanschluss, das der Kapitalismus zumindest den privilegierten Bürgern des Westens beschert, ist vielleicht nicht sehr intensiv, aber eine Alternative zu fordern - zum Beispiel den Kommunismus - ist fast undenkbar geworden. Dafür sorgt die Propaganda der Demokratie - die in Wahrheit schon lange keine Herrschaft des Volkes mehr ist. Sie zwingt uns, das herrschende System und den Kapitalismus mit seiner Kapitalkonzentration als Schicksal zu sehen, dem sich all unsere Wünsche zu beugen haben.

Dagegen müssen wir uns auflehnen. Als der Politiker Louis Antoine de Saint-Just zur Zeit der Französischen Revolution schrieb, dass Glück sei "eine neue Idee in Europa", hat er damit alle Menschen zu einer völlig neuen Sicht der Dinge aufgefordert.

Ist Glück nicht eher etwas Individuelles?

Nein, nicht unbedingt. Es kann einen kollektiven Charakter haben. Wie zum Beispiel die 68er-Bewegung, die ein Beispiel war für eine gemeinsame Aktion. Meine Idee von Glück hat eher mit Enthusiasmus zu tun. Das kann persönliches Glück sein, wie eine neue Liebe. Oder wenn man von einem Kunstwerk oder einem Buch so beeindruckt ist, dass sich die eigene Weltsicht verändert. Es geht also nicht um den Unterschied zwischen individuellem und kollektivem Glück, sondern eher darum, dass das Glück überraschend eintritt. Es bedeutet immer eine große Veränderung.

Im Mai 1968 waren Sie 31 Jahre alt und Teil der Pariser Studentenproteste. Heute bezeichnen Sie Ihr Engagement als "umsonst". Warum?

Glück ist nicht wie Arbeit. Es hängt nicht vom Ergebnis ab. Das ist ein Irrtum, dem viele Menschen unterliegen. Sie wollen etwas tun und das Ergebnis soll dann sein, dass sie glücklich sind. Aber so ist es meiner Meinung nach überhaupt nicht. Das Glück findet man im Erfinden, in der Aktion, im Entdecken. Wenn es anders wäre, könnte man Glück einfach managen und verwalten. Es gäbe ein einfaches Rezept, das glücklich macht. Aber man muss ein Element der Überraschung akzeptieren. Bezogen auf 1968 könnte man also sagen, dass unsere Aktionen nicht erfolgreich waren, weil sich die Gesellschaft nicht verändert hat.

Hatten Sie und Ihre 68er-Mitstreiterinnen und Mitstreiter nicht trotzdem einen großen Einfluss auf Politik und Gesellschaft?

Doch, aber leider nicht so, wie wir uns das erhofft hatten. (Lacht.)

Ihr neuestes Buch heißt "Trump - Amerikas Wahl". Zum Zeitpunkt des Wahlsiegs von Donald Trump waren Sie in den USA. Wie fühlt man sich als Kommunist in so einer Situation?

Meine Freunde und ich waren schockiert. Damals dachten ja alle, Hillary Clintons Wahlsieg sei so gut wie sicher. Mir ging es da nicht anders. Es war eine Katastrophe, keiner konnte glauben, was da passierte. Ich habe also nach einer Erklärung gesucht und schon am Tag nach der Wahl vor einem großen Publikum darüber gesprochen. Ein Franzose erklärt den Amerikanern Trumps Sieg. (Lacht.) Es war mir wichtig, nicht in Schockstarre zu verfallen, sondern sofort Stellung zu beziehen und eine Gegenbewegung zu formieren. Ich habe versucht, meinen amerikanischen Freunden Mut zu machen. Die Macht der extremen Rechten ist ja kein amerikanisches, sondern ein weltweites Phänomen. Aber die USA sind sehr groß und mächtig und dass es dort ein Repräsentant der extremen Rechten schaffen konnte, ist entsetzlich.

Sie schreiben, Trumps Sieg sei vor allem ein Symptom des "Siegs des globalen Kapitalismus". Erleben wir also gerade das "Ende der Geschichte", wie es der Politologe Francis Fukuyama schon einmal während des Falls des Eisernen Vorhangs diagnostiziert hat?

Der Sieg Trumps ist fast eine Karikatur, denn Trump ist Milliardär. Er bedeutet einen reaktionären Sieg der dominierenden Welt. Viele vergleichen diesen neuen politischen Typ, zu dem neben Trump auch viele andere Staatsführer gehören, mit dem Faschismus der 30er Jahre. Und da gibt es auch eine große Ähnlichkeit. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Heute gibt es keinen großen Gegner mehr, wie damals die Sowjetunion und die kommunistischen Parteien. Im Gegenteil: Heute muss man von einem demokratischen Faschismus sprechen. Denn Trump, Le Pen, Berlusconi und Konsorten agieren ja innerhalb des demokratischen Apparats. Sie verhalten sich und sprechen nur anders, sind inkohärent, impulsiv und verachten Rationalität und Intellektuelle.

Winston Churchill hat über die Demokratie gesagt: "Es ist kein gutes System, aber es ist das beste."

Das "beste" kann sehr schlecht sein. Es ist schon bezeichnend, dass die heutige Propaganda eigentlich nie sagt, der Kapitalismus sei ein sehr gutes System. Es reicht heute, zu sagen, dass es keine Alternative gibt.

Dazu kommt, dass wir in den letzten Jahrzehnten in der ganzen Welt ein Scheitern der traditionellen Linken erlebt haben. Die Sozialdemokraten in Deutschland wurde gerade wieder von Angela Merkel besiegt, die Parti Socialiste in Frankreich ist quasi ein Phantom und in den USA haben wir Trump. In gewisser Weise ähnelt die heutige Zeit der Phase am Ende des 19. Jahrhunderts, als sich die großen, sozialdemokratischen Parteien in Europa gebildet haben und sich in den USA unter Roosevelt eine Idee des Wohlfahrtsstaats herausbildete. All das endet gerade. Es geht also gar nicht so sehr um den Sieg der Rechten, sondern vielmehr um die Niederlage der Linken. Jetzt geht es darum, die Macht des Volkes und der Linken wieder aufzubauen. Ich glaube, dass die Sozialdemokratie den Menschen keine Hoffnung mehr geben kann. Die Schwierigkeit ist jetzt, eine neue Kraft zu finden. Um zu ihrer Frage zurückzukommen: Es ist nicht das Ende der Geschichte, sondern wir erleben den Beginn einer neuen Geschichte. Und das Ende einer gewissen Linken. (Lacht.)

Ist das auch der Grund, warum Sie nicht wählen gehen?

Ja, weil ich schon lange nicht mehr daran glaube, dass die Sozialdemokratie eine Alternative ist. Sicher schon seit Ende der 60er-Jahre. Davor war ich übrigens ein militanter Sozialdemokrat.

In Ihrer philosophischen Theorie haben Sie den Begriff "Ereignis" geprägt, das relativ plötzlich eintritt und die Welt grundlegend verändert. Ist die Flüchtlingskrise ein solches Ereignis?

© Stanislav Jenis

Ich glaube, dass man die Flüchtlingskrise global betrachten muss. Wir befinden uns in einer Periode, in der Millionen von Menschen nicht mehr in ihrer Heimat leben können, weil dort Krieg, Hunger oder Arbeitslosigkeit herrschen. Ich würde bei der Flüchtlingskrise nicht von einem "Ereignis", sondern eher von einem schrecklichen Symptom der globalen Situation sprechen. Es spaltet die Menschen in jene, die Angst haben, etwas zu verlieren, und jene, die diese Krise als Symptom einer globalen Ungerechtigkeit sehen und denken, dass man etwas unternehmen muss.

Warum spaltet das Thema Migration mehr als das Thema Ungleichheit?

Es gibt in unserem System große Ungleichheit, aber diese Ungleichheit ist kontrolliert. Ein Afrikaner, der seine Heimat verlassen muss, weil dort Krieg herrscht, in ein Boot steigt und sein Leben riskiert, repräsentiert Unglück, das viele Menschen einfach nicht sehen oder auch nur darüber nachdenken wollen. Sie ziehen es vor, in ihrer "kleinen" Ungleichheit zu leben. Einem Menschen, der sich bei uns in einer unglücklichen Situation befindet, geht es immer noch besser als diesem Afrikaner. Die Milliardäre waren dagegen immer schon hier. Die Spaltung der Gesellschaft angesichts der Flüchtlingskrise ist das wichtigste Problem, denn es rührt im Kern die Frage, warum diese Menschen zu uns kommen. Wir müssen die Milliardäre in ihren Löchern aufspüren.

Hat es auch mit Sichtbarkeit zu tun? Flüchtlinge sind durch die mediale Berichterstattung sehr präsent, während die "Reichen" eher im Verborgenen bleiben.

Ja, das ist ein sehr wichtiger Punkt. Die Oligarchie stellt eine sehr kleine Minderheit dar, die ebenso mächtig wie unsichtbar ist. Wir wissen zwar einiges über die enorme Ungleichheit in unserem System, aber sie ist gleichzeitig unserem System verborgen und Teil des Systems. Man muss bedenken, dass der globale Kapitalismus auf Milliarden von Menschen weltweit ruht, denen es sehr schlecht geht. Man muss sich fragen, was die Ursache ihres Unglücks ist. Und die Antwort liegt bei uns. Denn hier leben die Milliardäre.

Was haben Sie gegen Integration?

Integration ist die Idee, dass wir alle akzeptieren, die so werden wie wir (Lacht.) Das ist absurd. Wenn man über eine Gruppe von Menschen sagt, dass man sie nicht integrieren kann, heißt dass eigentlich nur, dass sie vielleicht anders sind und anders bleiben als wir. Diese Menschen kommen mit ihrer eigenen Kultur, Sprache, ihren Kriegstraumata und den schrecklichen Erfahrungen der Flucht. Und dann sagt man ihnen: Werdet wie wir, dann werden wir euch akzeptieren. So kann man nicht argumentieren. Wir stellen Bedingungen auf für die Aufnahme. Oft heißt es, wir nehmen die auf, die integrierbar sind, und den Rest schmeißen wir wieder raus. Man will die Studierten nehmen, die Französischsprachigen, die gut Ausgebildeten. Wenn ich sage, ich bin gegen Integration, dann meine ich, dass ich gegen diese pragmatischen Gründe bin, Menschen abzulehnen.

Was muss passieren?

In meinen Büchern habe ich mir Gedanken gemacht, was "die Welt" überhaupt ist. Viele haben den Eindruck, dass es "die Welt" überhaupt nicht gibt, sondern mehrere unterschiedliche Welten. Auf der einen Seite gibt es jene, die die Privilegien des Abendlandes erhalten wollen. Auf der anderen Seite jene, die außerhalb stehen und denen der Westen wie eine Art irdisches Paradies erscheint. Es gibt aber nur eine Welt. Wir müssen akzeptieren, dass diese Welt für die einen ein Paradies ist und für die anderen eine Hölle. Wenn wir uns wünschen, dass die Welt gespalten bleibt durch Mauern und Grenzen, dann werden wir selbst wie die Milliardäre, die sich abschotten. Wir werden Mini-Milliardäre.

Alain Badiou wurde 1937 im marokkanischen Rabat geboren. Er ist Philosoph, Mathematiker und Schriftsteller und gilt als einer der einflussreichsten linken Denker Frankreichs. Mit dem slowenischen Star-Philosophen Slavoj Zizek verbindet ihn eine lange Freundschaft. Seine Bücher erscheinen auf Deutsch im kleinen, unabhängigen Wiener Passagen-Verlag, darunter eine "Philosophie des wahren Glücks". Zuletzt erschien dort "Trump - Amerikas Wahl".