Der Kosovo ist nach wie vor ein gefährdetes Land, das zwar von internationalen Organisationen unterstützt, vom einstigen Mutterland Serbien jedoch nicht als eigenständiger Staat anerkannt wird.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 12 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Der weit verbreitete Witz im Kosovo, dass ein Politiker, Geschäftsmann und Polizist ein und dieselbe Person ist, wird schon beim Grenzübertritt mit unserem Reisebus augenscheinlich. Während ein anderer Bus problemlos und flott die Grenze von Albanien in den Kosovo passiert, sitzen wir fest. Unser mazedonischer Fahrer, auf das Phänomen angesprochen, erwiderte lapidar: "Die haben bezahlt!" Obwohl bereits aufgrund brütender Hitze viele Wasserflaschen von uns an die Zöllner verteilt wurden, um die Amtshandlung in Fluss zu halten, hörten wir von diesen ein mantraartiges "coffee!", das Codewort für Geld, das auch bei den zahlreichen Polizeikontrollen gerne ausgesprochen wird. Um unseren nächsten Termin - bei der Kosovarischen Zollbehörde in Prishtina - pünktlich einhalten zu können, sammelten wir im Bus "Kaffeegeld", und wie durch Zauberhand waren wieder alle Pässe bei uns.
Der Sprecher der Zollbehörde, auf dieses Phänomen angesprochen, meinte, dass seit dem Aufbau der Grenzkontrollen bereits über 200 korrupte Grenzbeamte ausgetauscht wurden und zusätzlich eine Servicehotline zur Verfügung stünde, um genau über solche Fälle sofort berichten zu können. Leider hatten wir diese Telefonnummer bei unserer Ausreise nach Mazedonien nicht bei der Hand, dort warteten wir, bis das Wasser zur Neige ging, und es allen Beteiligten zu heiß wurde. . .
Unklare Grenzen
Kosovo ist ein Schleusenland, und das nicht nur im übertragenen Sinn. Während es im Süden offizielle bilaterale Grenzen und Grenzübergänge gibt, wie wir sie von vor 1989 kennen, gibt es diese im Norden nicht. Da das "Mutterland" Serbien den Kosovo nicht als eigenstaatlich anerkennt, gibt es im Norden keine Grenzübergänge im üblichen Sinn. Organisierte Kriminalität, Menschenhandel, Handel mit Drogen, Waffen und Treibstoff gehören zum Tagesgeschäft. Auffällig die Dichte des Tankstellennetzes, das weit jenseits des täglichen Bedarfs liegt und auf hintergründige Geschäfte abseits der Mineralölindustrie schließen lässt.
Der Kosovo ist ein De-facto-Regime, deutsche Medien sprechen sogar von einem Failed State, dessen völkerrechtlicher Status umstritten ist. Nach dem Krieg im Jahr 1999 wurde der Kosovo unter die Verwaltungshoheit der Vereinten Nationen gestellt, die Unabhängigkeitserklärung des Parlaments folgte im Jahr 2008. Dennoch weigern sich zahlreiche Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen bis heute, die deklarierte Unabhängigkeit der Republik Kosovo anzuerkennen. Serbien hingegen betrachtet den Kosovo nach wie vor als eigene autonome Provinz.
Viereinhalb Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung wurde das Büro der Internationalen Zivilverwaltung (ICO) Mitte September 2012 geschlossen. Die Balkanrepublik ist nun auch formell selbstständig. Die ICO überprüfte die Einhaltung des bereits 2007 vorgelegten Ahtisaari-Planes. Nach diesem sollte es dem Kosovo erlaubt sein, eigene nationale Symbole zu führen und auch eigenständiges Mitglied in internationalen Organisationen zu werden. Die Basis dafür sollte in einer international überwachten Unabhängigkeit liegen. Trotz Schließung dieser Einrichtung bleibt der Kosovo ein freier Staat auf Raten und die NATO vor Ort.
Laut Diskussionen mit unterschiedlichen nationalen wie internationalen Einrichtungen im Kosovo ist die Bevölkerung des Nordens gespalten, zumindest befangen. Berichten zufolge sind die Sozialleistungen und auch das Gesundheitswesen, die im Norden von Belgrad für die serbischen Minderheiten (mit)finanziert werden, besser als im Rest des Landes. Die Europäische Mission steht somit zumindest in Teilen des Landes in Konkurrenz zu einer Realsituation, die "von außen" bewusst beeinflusst wird. Serbien verfolgt eine Doppelstrategie: EU-Integration und das Behalten des Kosovo als eigener Provinz werden gleichzeitig angestrebt. Kosovo liebäugelt hingegen mit einer NATO-Mitgliedschaft.
Im Norden des Landes gibt es daher zwangsläufig zahlreiche Parallelstrukturen. Zivilschutz, Schulen und Ausbildung sowie Krankenhäuser werden zum Teil von Belgrad finanziert. Schulbücher transportieren im Norden des Kosovo andere Inhalte als im Süden des Landes. Dementsprechend gehen auch Lehrmeinungen und das Geschichtsverständnis auseinander. Auch die Kosovo-Police soll im Norden des Landes Gehalt sowohl aus Prishtina wie Belgrad beziehen, das Amtshandeln der Polizei gegenüber Kosovo-Albanern divergiert also von dem gegenüber der serbischen Minderheit. Es gibt somit zahlreiche Profiteure der Instabilität, die serbischen Minderheiten sehen sich wiederum durch Prishtina majorisiert und in ihren Rechten ungenügend unterstützt.
Das Volk ist in vielerlei Hinsicht in sich gespalten. Über die Hälfte der Bevölkerung ist unter 25 Jahren, ein sehr untypisches Bild der Altersverteilung im europäischen Vergleich. Ältere leben und arbeiten vielfach im Ausland, vor allem in Deutschland, Österreich, der Schweiz und den USA. Schätzungen der Weltbank zufolge leben im Kosovo 88 Prozent Albaner, sieben Prozent Serben und die restlichen fünf Prozent stammen aus anderen ethnischen Gruppen.
Die mitunter verbreitete Erwartungshaltung, dass sich der Kosovo mit der Unabhängigkeit in eine blühende Landschaft verwandelt, war trügerisch. Obwohl das Land seit 2009 auch Mitglied des Internationalen Währungsfonds und der Weltbankgruppe ist, ist die internationale Handlungsfähigkeit aufgrund der Nichtanerkennung der Eigenstaatlichkeit durch wichtige UN-Mitglieder eingeschränkt. Auch die Kommunikation über den Kosovo in den Medien trägt selten zu einem positiven Image dieses Landes bei.
In einer Diskussion mit Studierenden in Prishtina wurde uns die Botschaft mitgegeben, dass bei der Interpretation der Geschichte des Kosovo "jeder versucht Recht zu haben" - es kommt nur darauf an, wie weit man in der Zeitreihe zurück geht und auf welcher Seite man wann steht. Zwischen der Schlacht am Amselfeld im Jahr 1389, bei der sich verschiedene christliche Fürstentümer und das Osmanische Reich gegenüberstanden, über die Bombardierung von Zielen in Ex-Jugoslawien bis hin zur Rolle der UÇK als Terrorzelle oder Befreiungsarmee spannt sich hier der Interpretationsspielraum mit oft diametralen Ansichten und divergierenden Legitimationsgrundlagen.
Umstrittene KFOR
"Vier Kinderfinger machen den Unterschied und offenbaren den tiefen Graben. Mit Begeisterung streckt ein Bub am Straßenrand vor Prishtina alle fünf Finger in die Höhe und winkt, jedes Mal, wenn die olivgrünen Autos mit dem KFOR-Zeichen auf der Seitentür vorbeirauschen. Nur ein paar Kilometer weiter, in der serbischen Enklave Gračanica, nehmen die Kinder nur einen Finger zur Begrüßung der Soldaten: den ausgestreckten Mittelfinger." Das berichtet die "Kleine Zeitung" im September 2012. Zufällig waren wir am 4. Juli - dem amerikanischen Unabhängigkeitstag - in Prishtina. An diesem Tag wurde gefeiert, als gäbe es kein Morgen. Die wichtigsten Straßen in Prishtina heißen demnach auch "Boulevard Bill Clinton" und "UÇK".
Ob in Mitrovica im Norden des Landes an diesem Tag ebenso gefeiert wurde, entzog sich unserer Beobachtung. Dort steht auf einer Brücke nach wie vor ein Road-block. Laut KFOR - der internationalen Kosovo-Truppe mit österreichischer Beteiligung unter NATO-Kommando - wird dieser symbolisch belassen, bis eine politische Lösung zwischen Prishtina und Belgrad gefunden wurde. Auch im Norden des Landes, an den Grenzübergängen zu Serbien, ist die KFOR vor Ort. Es wird eine Grenze mittels physischer Präsenz symbolisiert, die nicht alle in gleicher Form wahrnehmen.
Die Europäische Union ist bemüht, die Staatenbildung und den Institutionenaufbau mit Hilfe der EULEX, der Europäischen Mission im Kosovo, nach wie vor zu unterstützen. Die Rechtsstaatlichkeitsmission entsendet Polizisten, Richter, Gefängnisbedienstete und Zollbeamte in den Kosovo und soll das Land beim Aufbau von Polizei, Justiz und Verwaltung unterstützen. Diese beobachtende und beratende Funktion wird von der KFOR im Auftrag der Vereinten Nationen abgesichert. Die Akzeptanz und Wertschätzung, die der EULEX im Kosovo entgegengebracht wird, ist aufgrund der dargestellten Hintergründe ambivalent. Es handelt sich somit auch um einen nicht allzu leicht zu erfüllenden Auftrag, wie eine Diskussion mit Vertretern der EULEX bestätigt hat.
Besorgte Investoren
Trotz vielfacher internationaler diplomatischer, politischer und militärischer Anstrengungen ist die Lage im Kosovo immer wieder ein Pulverfass. Das schreckt auch internationale Investoren ab, obwohl das Wirtschaftswachstum nach wie vor über dem von Kerneuropa liegt. Schon innerhalb Jugoslawiens galt der Kosovo als die ärmste Region - der Nachholbedarf ist somit auch in wirtschaftlicher Sicht enorm.
Laut Wirtschaftskammer Österreich liegen die Herausforderungen für internationale Investoren für den Kosovo, aber auch für die gesamte Region zum einen darin, die viel zitierte Schattenwirtschaft und Korruption zu überwinden. Zum anderen gibt es viele Defizite, die mit internationaler Unterstützung bearbeitet werden sollen: mangelnde Rechtssicherheit durch hinausgezögerte Verfahren, Unsicherheiten bei Grundbucheintragungen, hohe Bürokratien. Auch die in vielen Bereichen mangelhafte Infrastruktur schreckt Investoren ab. Solange der Kosovo nicht als sicherer Verhandlungspartner gilt, werden internationale Kooperationspartner zögern, Investitionen zu tätigen.
Sehr vielschichtig und komplex sind also die Entwicklungen, Netzwerke und Parallelstrukturen im Kosovo. Das Motto der KFOR "Together as One" scheint noch mehr Vision als Realität zu sein. Die internationale Community ist hier gefordert, ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, ein demokratisches, multi-ethnisches Land, das zur regionalen Stabilität beiträgt, unterstützend hervorzubringen. Schuldzuweisungen, wer nun für die gegenwärtigen Miseren verantwortlich ist - die Staatengemeinschaft oder der Kosovo - stabilisieren hingegen eher den Ist-Zustand. Auch für diesen gibt es genug Interessenten.
Martin Heintel, geboren 1967, ist Professor am Institut für Geographie der Universität Wien; 2012 leitete er eine Exkursion der Universität Wien zum Thema "EU-Inte-gration und Regionalentwicklung" am Westbalkan.