Vor ziemlich genau zehn Jahren war über dem Brandenburger Tor ein beeindruckendes Feuerwerk zu bestaunen. Tausende Menschen hatten sich zuvor an der Berliner Mauer versammelt, um die einstige | Trennlinie zwischen den einst verfeindeten Ideologien für immer einzureißen. Die Restbestände der Mauer und des Eisernen Vorhangs verkamen zu stummen Mahnmalen einer 40-jährigen Trennung des | europäischen Kontinents. Die achtziger Jahre klangen in diesem Sinne in einer für viele Menschen ergreifenden Euphorie, Zuversicht und Hoffnung aus. Viele PolitikerInnen, SozialwissenschaftlerInnen | und FriedensforscherInnen, aber auch Militärs nahmen dieses bahnbrechende Jahrhundertereignis als Anlass für die Konzeption eines neuen Europas, inner- und außerhalb dessen für kriegerische | Auseinandersetzungen künftig kein Platz sein sollte.
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Europa hätte, so schien es zumindest, seine Lektion ein für allemal gelernt. Dem "Ewigen Frieden", so wie dieser einst von dem deutschen Philosophen Immanuel Kant skizziert wurde, stünde fortan
nicht mehr im Wege. Doch es sollte alles ganz anders kommen . . .
Die Illusionen, die man nach dem Niedergang des osteuropäischen Sozialismus, der Auflösung des Warschauer Paktes und der deutsch-deutschen Wiedervereinigung noch gehabt hatte, zerplatzten innerhalb
kürzester Zeit wie Seifenblasen. Der Zusammenbruch des osteuropäischen Systems bewirkte zwei Phänomene, üben dessen Ausmaß sich damals noch kaum jemand bewusst war und dessen friedenspolitische
Folgen bis zu heutigen Tage wirksam sind: Zum einen setzte die weggefallene, ideologischen Klammer der in sich erstarten sozialistischen Ideologie bislang völlig verkannte nationalistischen Kräfte
frei und führte in weiten Teilen Osteuropas (Balkan, Kaukasus) zu einer Vielzahl von ethnisch legitimierten Kriegen; zum anderen führte der in dieses Vakuum eindringende, westliche Kapitalismus zu
tiefen, sozial-gesellschaftlichen Einschnitten, welche die bereits vorhandenen Spannungen noch weiter verstärkten. Das Zusammenwirken dieser beiden, bislang noch nie da gewesener Phänomene brachte
das sich selbst emanzipierende Europa in ein beklemmendes Dilemma supranationale Integration versus nationale Fragmentierung. Der Traum vom paneuropäischen "ewigen Frieden" wurde vielerorts in und um
Europa zum friedenspolitischen Alptraum.
Das Chaos Jugoslawien
Eine besonders fatale Ausprägung einer national und religiös legitimierten Defragmentierung war ohne Zweifel der tragische Staatserfall des einstigen Jugoslawiens. Die ersten Gehversuche der noch
jungen gesamteuropäischen Außenpolitik gerieten im Zuge der Anerkennungspolitik gegenüber den ehemals jugoslawischen Teilrepubliken sehr schnell ins Stolpern. Die europäischen Staaten schienen
offenbar vergessen zu haben, dass sie vor ihrer Zusammenfindung selbst einen von hohen Blutzoll begleiteten Prozess der Nationalstaatsbildung durchlaufen hatten. So betrachtet, ereignete sich im
ehemaligen Jugoslawien nichts anderes als das, was zuvor in Europa schon vorgezeichnet, jedoch wieder in Vergessenheit geraten war: Nationalismus, Ausgrenzung und Intoleranz, begleitet von der
blutigen Verfolgung von sogenannten "Minderheiten". Das neue Europa geriet mit seiner Außenpolitik der Trennung, Aufteilung und Divergenz in ein weiteres Dilemma: Einerseits strebte die Europäische
Union nach Entgrenzung und Multikulturalität; andererseits vollzog sie nach außen hin genau das Gegenteil. Am Fallbeispiel Jugoslawien zeigte sich, dass die Europäische Union hinsichtlich ihrer
Außenpolitik noch einiges nachzuholen hatte.
Ein Imperium zerfällt
Während Michail Gorbatschow nach den Umbrüchen in Osteuropa in Osteuropa krampfhaft versuchte, den Zerfall der UdSSR zu verhindern, hatte sein damaliger Gegenspieler Boris Jelzin alle Hände damit
zu tun, den inneren Zerfall der Russischen Föderation aufzuhalten. Doch auch nach dem Sturz Gorbatschows, der anschließenden Auflösung der Sowjetunion und zwei fehlgeschlagenen Putschversuchen,
schien der Staatsverfall vor dem Restbestand des einstigen Imperiums nicht haltzumachen. Fehlgeschlagene Wirtschaftsformen, Veruntreuung, Korruption und politische Halsstarrigkeit der einstigen
Eliten trieben Russland in eine nahezu aussichtslose Krise. Nationale Separatismen waren schließlich die Folge und Moskau konnte seine integrale Macht nur mehr mit militärischer Gewalt gegenüber den
abtrünnigen Teilrepubliken Tschetschenien, Daghestan und der Dnjestr-Republik/Moldava behaupten. Die einst so erfolgreiche OSZE musste entweder dem schaurigen Treiben tatenlos zusehen oder
unverrichteter Dinge die Krisenregionen wieder verlassen. Die militärische Intervention der NATO in Restjugoslawien führte schließlich die westliche OECD-Welt an den Rand eines neuen Kalten Krieges.
Doch nicht nur Europa und Russland hatten mit dem wachsenden Chaos der nationalen Egoismen zu kämpfen. Insbesondere in den peripheren Regionen, d. h. innerhalb der sogenannten Dritten Welt, stiegen
die Konfliktkonstellationen geradezu explosionsartig und nahmen dramatische Ausprägungen an. Die zunehmenden Chaotisierungsprozesse provozierten eine Relativierung des Artikels 2/7 der Charta der
Vereinten Nationen, welcher bislang eine Nichteinmischung in innere Angelegenheiten vorsah. Doch die daraus abgeleitete "Humanitäre Intervention" wurde entweder mit äußerster Doppelbödigkeit oder
überhaupt nicht angewandt. Während es dem Westen im Irak und in Somalia um handfeste ökonomische bzw. um machtpolitische Interessen ging, nahm die Völkergemeinschaft die Genozide in Ruanda, im Sudan
und in Ost-Timor tatenlos hin. Die offensichtlich nur machtpolitisch ausgerichteten Interessenssphären des UN-Sicherheitsrates und dessen Selbstlähmung durch das Vetorecht der anderen ständigen
Mitglieder führte letztendlich dazu, dass die NATO im Falle Restjugoslawien den Vereinten Nationen die Entscheidungsgewalt aus der Hand nahm und damit die Autorität der bislang mächtigsten
Organisation der Welt außer Kraft setzte.
Der neue Hegemon und seine Sicherheitsordnung
Die geänderten strategischen Rahmenbedingungen, die neuen Feindbilder und die daraus resultierenden "neuen Unübersichtlichkeiten" führten seit dem Ende der Blockkonfrontation zu einer umfassenden
Diskussion um die Sicherheit des europäischen Kontinents. Abgesehen von der Zweifelhaftigkeit des Gesamtkonzepts einer "Wohlstandsfestung Europa", stellte sich die Frage, wer von den vorhandenen
Organisationen hierfür zuständig sein sollte. Die OSZE geriet aufgrund ihrer Rückschläge am Balkan und im Kaukasus schnell ins sicherheitspolitische Aus, der Westeuropäischen Union (WEU) fehlte es an
den geeigneten Durchsetzungskapazitäten und die Europäischen Union selbst beschränkte sich nur auf diplomatische Aktivitäten. Zu Beginn der 90er Jahre verabschiedete die NATO ein neues strategisches
Konzept, das den oben genannten Bedrohungen Rechnungen tragen sollte. Daraufhin kam es zu einem jahrelangen Tauziehen zwischen den "atlantischen" Kräften, die für die NATO als Pfeiler der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) Europas optierten und der "westeuropäischen" Fraktion, welche hierfür die WEU forcierten. Die Nordatlantische Allianz gab im November 1991 ihr ursprünglich
defensiv angelegtes Strategiekonzept auf und transformierte sich in eine offensive Interventionsmacht, die sie im Zuge des Kosovo-Krieges im Frühjahr 1999 gegenüber der Weltöffentlichkeit auch massiv
unter Beweis stellte, ohne dabei die Vereinten Nationen vorher um ihr Einverständnis zu bitten. Kurz vor ihrer militärischen Intervention in Jugoslawien/Kosovo vollzog die NATO die schon vor längere
Zeit angekündigte und höchst umstrittene Erweiterung nach Osten und gefährdete dabei die Sicherheitsinteressen Russlands. Nach der erfolgreich geschlagenen Schlacht in Restjugoslawien und dem Wechsel
des damaligen NATO-Generalsekretärs und neu ernannten "Mr. GASP" Javier Solana in die WEU, wurde offenkundig, dass das jahrelange Tauziehen zwischen der atlantischen und westeuropäischen Fraktion
innerhalb der GASP zugunsten der "Atlantiker" ausgegangen war.
Krisengipfel ohne Ende und Kontinente ohne Hoffnung
Unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen fanden eine Reihe von Krisengipfeln statt, die sich den globalen Problemen wie Umwelt, Armut, Soziales, Frauen etc. auseinandersetzen und adäquate
Lösungen herbeiführen sollten. Die Ergebnisse fielen für die Beteiligten allerdings ernüchternd aus. Das umfassende Krisenkonzept der "Nachhaltigkeit" als Credo der 90er Jahre schlechthin, vermochte
keineswegs die von den Weltkonzernen verkündete und herbeigeführte "Globalisierung", d. h. die uneingeschränkten Entgrenzung und Entfesselung des Weltkapitals, zu kompensieren. Das Gefälle zwischen
den reichen Industrienationen und der sogenannten "Dritten Welt" vertiefte sich weiter, die Umweltverhältnisse in den ärmeren Regionen der Welt verschlechterte sich zunehmend und die Situation der
Frauen verbesserte sich vergleichsweise nur in den OECD-Ländern. Besonders prekär wurde die Lage in vielen peripheren Regionen der Weltgesellschaft. Lateinamerika vermochte zwar seine
Militärdiktaturen abzuschütteln und konnte diese zumindest durch demokratisch bestellte Systeme ersetzen. In Afrika blieben hingegen Demokratisierungsprozesse auf dem halben Weg stecken und die
friedenspolitischen Prozesse in Angola, Mocambique, Liberia, West-Sahara oder Somalia wurden von schweren Rückschlägen begleitet. Vergleichsweise positiv, wenn auch schleppend vorangehend, sind die
Demokratisierungs- und Friedensprozesse in Südafrika und im Nahen Osten hervorzuheben.
Friedenspolitisch betrachtet, waren die Neunziger Jahre ein schwieriges und oftmals enttäuschendes Jahrzehnt. Dennoch gilt es, die friedenspolitischen Herausforderungen in Hinblick auf das kommende
Jahrtausend anzunehmen, indem fehlgeschlagene Konzepte neu überdacht und erfolgreiche Friedensstrategien konsequent vorangetrieben werden. Diese könnten im Wesentlichen folgendermaßen aussehen:
· Der OSZE-Prozess darf nicht wie bisher auf halben Wege stecken bleiben, sondern sollte durch eine flexiblere Entscheidungsfindung reformiert werden, die sich adäquat in jene der Europäischen Union
einzufügen vermag. Der verstärkte Auf- und Ausbau von zivilen Kräften und zusätzlichen Krisenmechanismen scheint unausweichlich.
· Eine Reform der Vereinten Nationen ist ebenfalls unumgänglich, insbesondere was die Entscheidungsfindung des Sicherheitsrates anbelangt. Ein mit Weltkriegssiegern besetztes Gremium mit Vetorecht
entspricht nicht mehr den Anforderungen des kommenden Jahrtausends. Denkbar wäre eine Aufwertung der Vollversammlung sowie die Miteinbeziehung von NGOs als zusätzliche Entscheidungsträger.
· Nichtstaatliche Akteure (BGOs) sollten ihre Zusammenarbeit weiterhin intensivieren und global effizienter gestalten. Der Auf- und Ausbau von vernetzten, konfliktbearbeitenden
Kommunikationsstrukturen wäre hier gefragt. In dieser Hinsicht könnte die Nutzung neuer Kommunikationsmedien · wie beispielsweise das Internet · sehr hilfreich sein.
· Der uneingeschränkten Entfesselung des Weltkapitals (Globalisierung) ist in jedem Falle Einhalt zu gebieten. Es kann und darf nicht sein, dass den Weltkonzernen in zunehmenden Maße die
Verantwortlichen in sozialpolitischen Fragen überlassen wird, wie dies in den 90er Jahren schon ansatzweise der Fall war (WTO, GATT, MAI). Die Suche nach alternativen Wirtschaftsformen und die
Aufwertung des tertiären Sektors (Landwirtschaft, Umwelt) sind in diesem Zusammenhang unabdingbar.
· Dies gilt auch für militärische Organisationen, die teilweise erfolgreich den Versuch unternommen haben, sich mit weit in die zivile Gesellschaft hineingehenden Fragestellen zu befassen und dabei
die politischen Entscheidungsträger zu übergehen. Politische und zivile Entscheidungsträger müssen zukünftig gegenüber militärischen "Selbst-Mandatierungen" die Oberhand gewinnen.
· Aus den Erfahrungen mit dem ehemaligen Jugoslawien müssen unbedingt friedenspolitische Konsequenzen gezogen werden. Aufteilungspläne nach ethnischen Kriterien oder militärische Interventionen
zugunsten einer nationalistischen Streitpartei sind erfahrungsgemäß nicht zielführend. Die Konferenz von Rambouillet wäre vermutlich besser ausgegangen, hätte man auf andere, demokratische Akteure
gesetzt.
· Wirtschaftshilfen an autoritäre Systeme haben sich schon in der Entwicklungshilfe gegenüber Afrika, Asien und Lateinamerika nicht bewärt, schon gar nicht gegenüber Russland. Es wäre daher
vernünftiger, das gegen Ende der 90er Jahre angewandte Konzept der "Wirtschaftshilfe gegen Demokratisierung" konsequent weiterzuführen und gegebenenfalls an friedenspolitische Konzessionen der
Empfängerländer zu binden (zum Beispiel "Wirtschaftshilfe gegen atomare und konventionelle Non-Proliferation").
Ronald H. Tuschl ist Mitarbeiter des Österreichischen Studienzentrums für Frieden und Konfliktforschung (ÖSKF).