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Die Lage in der Ukraine ist hochexplosiv. Obwohl niemand einen Bürgerkrieg will, ist die Gefahr, dass er kommt, real.
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Moskau. Sind es "nur" blutige Zwischenfälle, die den Osten der Ukraine erschüttern, oder tobt dort bereit ein "richtiger" Bürgerkrieg? Handelt es sich bei den Dutzenden Toten, die zu beklagen sind, um Opfer von "Zwischenfällen", oder ist es ein systematisches Morden? Die Lage ist jedenfalls extrem angespannt, es reicht ein Funke, um das Pulverfass endgültig zur Explosion zu bringen. Mahnendes Menetekel ist der Brand des Gewerkschaftshauses in Odessa. Ein Zusammenstoß zwischen ukrainischen Nationalisten und prorussischen Separatisten hatte dort zu einer Brandkatastrophe geführt, der mindestens 46 Menschen zum Opfer fielen (siehe Artikel unten). Die Bilder der verkohlten Leichen, die daraufhin im Internet kursierten, heizten die Stimmung der Gewalt zusätzlich an.
In den Städten Slawjansk und Mariupol jedenfalls riecht es bereits nach Krieg. Slawjansk ist von ukrainischem Militär umstellt, in der Stadt herrschen die bewaffneten Separatisten. Ihre Zahl soll rund 800 Mann umfassen, ausgerüstet mit großkalibrigen Waffen und Granatwerfern. Die gegnerischen Checkpoints sind manchmal nur wenige hundert Meter voneinander entfernt. Der Fernsehturm von Slawjansk ist Kriegsgebiet. Hier stehen Soldaten der Armee, Rebellen nehmen das Areal seit Tagen unter Beschuss. Die Streitkräfte haben im Gegenzug verschiedene Checkpoints der Rebellen im Visier - Granaten schlagen in Vorgärten oder in Hausdächer ein. Unter den Toten sind viele pro-russische Aktivisten, aber auch Soldaten der Armee.
Ob es gelingt, einen Bürgerkrieg zu verhindern oder nicht, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Soll eine politische Lösung gefunden werden, müsste Russland eingebunden werden. Trotz der Eskalationspolitik in der Ostukraine ist aber unklar, welche Lösung für die Ukraine der Kreml präferiert. Moskau nennt die prorussischen Separatisten beharrlich "Anhänger einer Föderalisierung", redet also noch nicht von einer Zerstückelung der Ukraine, obwohl der Kreml den Ausgang des Unabhängigkeitsreferendums in Donezk und Luhansk offiziell "respektiert" hat. Die russischen Vorstellungen einer Föderalisierung des bislang zentral gesteuerten Landes decken sich aber nicht mit den ukrainischen: Moskau will den ukrainischen Regionen das Recht zugestehen, eine eigene Außenhandelspolitik zu betreiben. Damit könnten etwa die Süd- und Ostukraine der von Moskau geplanten Zollunion beitreten - eine Beinah-Teilung des Landes. Kiew will sich nur auf eine "Dezentralisierung" einlassen, etwa auf eine Wahl der Gouverneure durch das Volk. Die Chefs der Regionen werden im derzeitigen System durch die Zentrale ernannt - eine Lösung, die für das uneinige Land nicht gerade optimal ist.
Putin bliebe nur "Trostpreis"
Die EU propagiert einen nationalen Dialog. Sie verlangt, dass die prorussischen Einheiten entwaffnet werden und dass Kiew seine staatliche Oberhoheit im ganzen Territorium wiederherstellen kann. Am heutigen Mittwoch soll unter Schirmherrschaft der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ein Runder Tisch unter Einbeziehung der prorussischen Kräfte beginnen. Der Kreml hat seinerseits genug Gründe, einen Bürgerkrieg in der Ukraine zu verhindern: Die russische und die ukrainische Wirtschaft sind eng verflochten. Firmen wie der Kiewer Flugzeugbauer Antonow oder das Raketenwerk "Juschmasch" in Dnipropetrowsk sind auch für Russlands Rüstung wichtig. Zwar versicherte Präsident Wladimir Putin, dass Russland binnen zwei bis drei Jahren die Bande zur ukrainischen Industrie lösen könnte. In der gegenwärtigen angespannten Wirtschaftslage würde der Preis dafür aber extrem hoch sein.
Moskaus Politik der Unterstützung der Separatisten birgt für den Kreml aber auch noch andere Risiken: Mit der Krim hat Präsident Putin sich den prorussischsten Teil der Ukraine gesichert, der fällt dafür als Machtfaktor innerhalb der Ukraine weg. Spalten sich auch andere russischsprachige Teile der Ukraine ab, etwa Donezk und Luhansk, droht die Stimmung in der "Rest-Ukraine" endgültig zu kippen. Putin hätte dann im Machtpoker um die Ukraine zwar als "Trostpreis" die Krim und die - im Übrigen hochsubventionierten - Industriegebiete in der Ostukraine erhalten, riskiert aber, dass die West- und Zentralukraine sich endgültig dem Westen zuwendet - mit allen Folgen einschließlich eines eventuellen Nato-Beitritts.
Kirill I. hält sich zurück
Kiew, aus russischer Sicht die "Mutter der russischen Städte", das "Jerusalem" der russischen Orthodoxie, der Sitz des berühmten russisch-orthodoxen Höhlenklosters, wäre dann für Russland verloren - ein Szenario, das man in Moskau nicht herbeisehnt. Und das wohl auch der Grund ist, warum sich der russisch-orthodoxe Patriarch Kirill I. in dem Konflikt um die Ukraine bislang mit Verurteilungen der Maidan-Bewegung zurückhält und zum Frieden aufruft. Der Umstand, dass Russland bei einer weiteren Eskalation mehr zu verlieren als zu gewinnen hat, dürfte Moskau kompromissbereit machen.
Gegen einen Kompromiss spricht, dass Russland dem Westen, insbesondere den USA, in starkem Ausmaß misstraut. Die Osterweiterungspolitik der Nato, der US-Raketenschild rund um Russland haben in Moskau das alte Feindbild USA reaktiviert. Dazu hat die Annexion der Krim ein nationales Fieber entfacht. Russische Medien schildern, dass die russischsprachigen Bevölkerungsteile in der Ukraine von "Faschisten" bedroht sind. Ob Putin in solch einer Lage von seiner Haltung, die Russen im Ausland zu unterstützen, noch abweichen kann, ist fraglich.