Vor 300 Jahren kam Denis Diderot zur Welt. Der vielseitige Schriftsteller und Gelehrte schuf ein monumentales Werk und zählt zu den bedeutendsten Vertretern der französischen Aufklärung.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 11 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
"Zu disparat und wirr, zu vielfältig einerseits; zu rational, zu sehr - andererseits - ein leidenschaftlicher Anhänger der Vernunft-Partei, ließ er sich nie so recht in den klassischen Kanon französischer Literaturgeschichten einordnen." Mit diesen Worten pointiert die Diderot-Biografin Johanna Borek ihren Protagonisten und dessen Position in der (französischen) Literatur. In der Tat ist Diderot nicht so leicht einzuordnen. Er ist Essayist, Erzähler, Romancier, Kunstkritiker und Philosoph in einem, Verfasser "ketzerischer" Schriften, die ihn ins Gefängnis bringen - nicht zuletzt aber auch Herausgeber der "Encyclopédie", eines gewaltigen verlegerischen Unternehmens, welches ihm freilich auch allerlei Kalamitäten einbringt. Mit diesem Werk steht sein Name heute noch in der Hauptsache im Zusammenhang.
Revolutionäre Ideen
Diderot gehört zu den "Bösen Philosophen", deren Lebensschicksale, Werke und Verflechtungen untereinander und mit anderen Zeitgenossen Philipp Blom in seinem gleichnamigen, überaus lesenswerten Buch beschrieben hat. Diese Philosophen heckten revolutionäre Ideen aus, bemühten sich um ein radikal neues Verständnis der Welt, setzten auf die menschliche Vernunft und gaben den Leidenschaften den ihnen gebührenden Platz. Unter ihnen ragen Jean Jacques Rousseau (1712-1778) und François-Marie Voltaire (1694-1778) in den Augen der Nachwelt besonders hervor. Ihnen wurden bleibende Denkmäler gesetzt.
Diderot dagegen ist sozusagen ins Hintertreffen geraten. Aber aus guten Gründen darf man ihm dieselbe Bedeutung beimessen wie seinen beiden berühmteren Mitstreitern.
Diderot wurde am 5. Oktober 1713 als zweites Kind eines Messerschmieds in Langres (Champagne) geboren und besuchte ebendort das Jesuitenkolleg. 1728 (oder 1729) ging er nach Paris, wo er abermals von Jesuiten unterrichtet wurde und schließlich an der Sorbonne studierte. Danach, 1736, arbeitete er als Anwaltsgehilfe, gab die Stelle aber nach einem Jahr wieder auf und lebte in der Folge von Gelegenheitsarbeiten im literarischen Untergrund, von Übersetzungen und von Artikeln, die in verschiedenen Zeitschriften erschienen. Vorübergehend arbeitete er auch als Hauslehrer und gab Mathematikstunden. 1741 lernte er die Näherin Anne-Toinette Campion kennen, die er - ohne Einwilligung seines Vaters - 1743 (heimlich) heiratete. Glücklich wurde die Ehe nicht.
1745 schlossen sich einige französische Buchhändler-Verleger zusammen, um eine Übersetzung der zweibändigen "Cyclopaedia" des Engländers Ephraim Chambers (1680-1740) herauszugeben. Dieses enzyklopädische Wörterbuch war 1728 erschienen. Für seine Übersetzung konnten Diderot und der Mathematiker Jean le Rond d’Alembert (1717-1783) gewonnen werden. Damit war der Keim für ein Projekt gelegt, das in der Geschichte der enzyklopädischen Literatur seinesgleichen sucht. Denn die Übersetzung verselbständigte sich bald, wozu auch eine Vertragsänderung beitrug: Die Übersetzer wurden 1747 zu Herausgebern und änderten die Konzeption des Werkes grundsätzlich.
Das Ergebnis war die berühmt gewordene "französische Enzyklopädie", die als "Enzyklopädie oder Universalwörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe" ab 1751 erschien und zu der unter vielen anderen Rousseau und Voltaire Artikel beisteuerten. Erst knapp dreißig Jahre später konnte das Projekt vollendet werden. Für achtundzwanzig der insgesamt fünfunddreißig Bände dieses monumentalen Werkes war Diderot der Hauptverantwortliche, bereits 1758 schied D’Alembert aus der Redaktion aus.
Mit welchen Schwierigkeiten die Realisierung der Encyclopédie für Diderot verbunden war, lässt sich heute kaum noch erahnen. Noch vor Erscheinen des ersten Bandes wurde er - wegen anderer Schriften - inhaftiert, die Ency-clopédie selbst kam auf den Index und manche der illustren Mitarbeiter zogen ihre Artikel und Zusagen wieder zurück.
Skeptisches Denken
Beim Publikum aber stieß das Werk auf sehr lebhaftes Interesse und fand reichlich Absatz, obwohl sein Gesamtpreis dem Jahreseinkommen eines guten Handwerkers entsprach. Denn es handelte sich dabei nicht nur um ein Nachschlagewerk, sondern auch um eine Aufforderung zum skeptischen Denken. In seiner Art steht dieses "Lexikon" einmalig da. Es ist ein bleibendes Monument der Aufklärung - und ohne Diderot wäre es nicht verwirklicht worden. Zwanzig Jahre seines Lebens widmete er diesem Werk und musste in dieser Zeit manche Enttäuschungen hinnehmen, Querelen und Ängste überstehen.
Als Katharina II. von Russland (1762-1796) im Jahr 1765 Diderots Bibliothek ankaufte und ihn gleichzeitig als deren Verwalter (in seinem Pariser Haus) auf Lebenszeit einstellte, entspannte sich die finanzielle Lage des Franzosen, die oft alles andere als glänzend gewesen war. 1773 besuchte er die Zarin auf deren Einladung in St. Petersburg. Zahlreiche weitere literarische Arbeiten folgten. Am 31. Juli 1784 starb Diderot während des Mittagessens an Herzversagen, nachdem er im Februar desselben Jahres einen Schlaganfall erlitten hatte.
Diderot kann auch als ein Vorläufer des Evolutionsdenkens gelten. Wenngleich er nicht als Evolutionstheoretiker im engeren Sinn betrachtet werden darf, so lässt er doch an verschiedenen Stellen seines Werkes erkennen, dass er den Wandel der Organismen-Arten im Lauf der Zeit ernsthaft in Betracht zog. Beispielsweise schrieb er: "Das unsichtbare Würmchen, welches sich im Schlamm bewegt, wird sich vielleicht zu einem großen Tier entwickeln; das riesige Tier, das uns durch seine Größe erschreckt, wird sich vielleicht in die Gestalt eines Würmchens verwandeln, ist möglicherweise nur ein zeitgebundenes Produkt dieses Planeten." Das klingt freilich mehr nach Vermutung als Überzeugung. Auch wenn er fragt "Wer weiß, an welchem Augenblick der Folge von Tiergenerationen wir angekommen sind?", lässt er zwar eine Idee durchblicken, die jedoch von der modernen Evolutionstheorie noch weit entfernt ist.
"Alles verändert sich"
Aber man bedenke die Kühnheit solcher Ideen zu einer Zeit, in der der biblische Schöpfungsbericht noch das unerschütterliche "Naturparadigma" darstellte, an dem auch nur leise zu zweifeln höchst gefährlich sein konnte. Man wird Diderots Vorsicht verstehen, wenn man sich daran erinnert, dass es noch Charles Darwin (1809-1882) - der nicht mehr befürchten musste, wegen seiner Lehre eingekerkert zu werden - bei manchen seiner Formulierungen nicht an Zurückhaltung und Vorsicht fehlen ließ. Umso erstaunlicher ist es, wenn Diderot dann doch lapidar feststellt: "Alles verändert sich, alles vergeht. Nur das All bleibt."
Durch viele seiner Überlegungen hat Diderot mitgeholfen, das lang gehegte statische Weltbild durch ein dynamisches abzulösen. Er darf als ein Kronzeuge des (langsamen) Übergangs zu einer evolutionären Weltsicht angesehen werden, in der schließlich der Mensch nicht mehr das sein konnte, als was er die längste Zeit erschienen war: Als Krone der Schöpfung, ein von Gott mit Vernunft und freiem Willen ausgestattetes Wesen.
Die naturalistische Gesamtkonzeption seiner Ideen ließ Diderot den Menschen als Naturwesen erkennen, ausgestattet mit Trieben und Gefühlen, denen nichts "Sündhaftes" innewohnt. Seine Gedankenwelt hatte also auch für die Moralphilosophie umwälzenden Charakter.
Diderots Vorstellungen von Entwicklung müssen selbstverständlich im Zusammenhang mit den sich damals anbahnenden gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen gesehen werden. Ein Fortschrittsoptimismus machte sich breit, die Welt erschien veränderbar und verbesserungsfähig. Es wehte der Geist der Aufklärung. Diderot, d’Alembert, Rousseau, Voltaire und andere trugen ganz entscheidend zu einem humanistischen, liberalen Weltbild bei. Ihren - aus politischen und religiösen Gründen - gefährlichen geistigen Gratwanderungen verdanken wir die Idee der Toleranz, die Menschenrechte und noch anderes mehr; unverzichtbare Eckpfeiler einer demokratischen Gesellschaftsordnung.
Insbesondere Diderot, ein entschiedener "Materialist", sträubte sich gegen alle Formen des Obskurantismus. Statt Naturphänomene metaphysisch zu verschleiern, gab er der Überzeugung Ausdruck, dass sie auf natürliche Weise, also wissenschaftlich zu erklären seien.
Diderot zählt zu den wichtigsten Vertretern der Aufklärung, deren Ziel letztlich der mündige Mensch war. Dieses Ziel aber haben er und seine Gesinnungsfreunde nicht erreicht, und "der Krieg, in dem sie kämpften, tobt noch immer, ein Krieg um die Träume unserer Zivilisation, die so viel großzügiger, luzider und humaner sein könnte, als sie es heute ist" (Blom).
Weiter denken!
Die Finsterlinge der "Gegenaufklärung" haben nie geruht und immer neue Strategien der Entmündigung des Menschen ausgeheckt. War es lange Zeit die "allein seligmachende" Kirche, die den Einzelnen seiner Individualität zu berauben trachtete und ihn gefügig machen wollte, spinnen heute Bürokraten und Technokraten ein immer dichter werdendes Netz von Verordnungen, Geboten und Verboten und hindern den Einzelnen an einem selbstbestimmten Leben. Eine von ökonomischen Imperativen bestimmte Politik firmiert sich als starkes Gegengewicht zur noblen Idee einer humanen Welt.
Die Aufklärung ist nicht bloß ein Kapitel der (europäischen) Geistesgeschichte. Sie ist ein unvollendetes Projekt, dessen frühe Verteidiger uns dazu auffordern, unsere fragwürdige Gegenwart kritisch zu beleuchten und uns zu ihr in ebenso kritische Distanz zu begeben, die Idee des mündigen Menschen aufzugreifen und mit demselben Mut und derselben Unerschrockenheit fortzuführen, wenngleich die Feinde der Aufklärung (in unseren Breitengraden) heute in einem anderen Gewand auftreten als in jenen Tagen.
Franz M. Wuketits, geboren 1955, lehrt Wissenschaftstheorie mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften an der Universität Wien. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien: "Animal irrationale. Eine kurze (Natur-) Geschichte der Unvernunft", Suhrkamp, 2013).
Literaturhinweise:
Johanna Borek: Denis Diderot in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
Philipp Blom: Böse Philosophen. Ein Salon in Paris und das vergessene Erbe der Aufklärung. Hanser Verlag, München 2011.