Die neue Koalition ist nicht das "Ende der Demokratie", wie manche Kommentatoren meinen.
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Vier Parlamentswahlen von April 2019 bis März 2021 brachten jeweils Ergebnisse, die eine Regierungsbildung unmöglich machten, deshalb hat Israel jetzt wieder eine "unmögliche" Regierung. Schon die zuletzt seit Mai 2020 amtierende war "unmöglich": ein komplizierter Organismus mit zwei Köpfen, von denen der eine - der liberale Benny Gantz - im Wahlkampf geschworen hatte, nie und nimmer mit dem anderen - dem rechtskonservativen Premier Benjamin Netanjahu - zu koalieren. Nach nur sieben Monaten, in denen über fast alles gestritten und fast nichts weitergebracht wurde, hauchte die gelähmte politische Missgeburt ihr Leben aus.
Die am Sonntag angelobte neue Regierung hat mit ihrer Vorgängerin gemein, dass auch sie in einem gebrochenen Wahlkampfversprechen wurzelt. Naftali Bennett von der nationalreligiösen Jamina-Partei hatte vor laufender Kamera eine Erklärung unterschrieben, wonach er Jair Lapid von der Zentrumspartei Yesch Atid auf gar keinen Fall zum Premier machen würde. Jetzt haben die beiden einander gegenseitig zu Premiers gemacht, mit einer vereinbarten Rochade im August 2023. Dabei hat Bennett sogar noch den Vortritt bekommen - mithin ist der Chef einer 6-Prozent-Partei nun Israels mächtigster Mann.
Kein gemeinsamer Nenner
Noch "unmöglicher" als dieses Arrangement ist aber das Gespann, das Bennett und Lapid kutschieren wollen. Es besteht aus nicht weniger als acht Parteien, die ideologisch keinen gemeinsamen Nenner haben - mit dabei sind Tauben und Falken, militant Progressive und Erzkonservative, Antireligiöse und Religionsnahe, und sogar eine islamistisch-arabische Partei. Dementsprechend widersprüchlich sind die kreuzweise geschlossenen Koalitionsabkommen.
Wichtige Bereiche wird diese Regierung nicht einvernehmlich bearbeiten, sondern nur ausklammern können: Justizreform, Homo- und Gender-Angelegenheiten, Beduinen, Migranten oder komplexe Fragen von Staat und Religion wie die Zivilehe oder Subventionen für religiöse Schulen.
Insbesondere bei der Palästinenserpolitik vertreten die ganz linken und die ganz rechten Partner konträre Positionen. Nun gut, der israelisch-palästinensische Konflikt war in den vier Wahlkämpfen kein Thema, und von einem "Friedensprozess", bei dem konkret über die Schaffung eines Palästinenserstaates entschieden werden müsste, wird auf absehbare Zeit ohnehin keine Rede sein.
Aber wie soll man sich auch nur darüber einigen, ob eine Flaggenparade in Ost-Jerusalem erlaubt oder verboten wird oder Budgetmittel für den Ausbau einer Siedlung bewilligt oder blockiert werden? Richtig heikel kann das werden, wenn es um die nationale Sicherheit geht, etwa bei einer Konfrontation mit dem Iran oder der Hamas. Hätte diese neue Regierung angesichts der Raketensalven, die vor kurzem in israelischen Städten einschlugen, eine gemeinsame Linie gefunden?
Ein einziges Motiv, das eint
Natürlich, es gäbe schon auch ein paar ideologiefreie Ziele, auf die alle zum Wohle aller hinarbeiten könnten, etwa billigere Wohnungen und weniger Verkehrsstaus. Aber was die Koalitionsfragmente kittet, ist nur ein einziges politisches Motiv: der beinahe schon obsessive Wunsch, Netanjahu loszuwerden. Und weil dieses Motiv so stark ist, liegt darin wiederum das Potenzial zu einem Aufbruch.
Nein, Israels Politik wird sich nicht fundamental ändern, bloß weil Bennett statt Netanjahu an der Spitze steht. Alle israelischen Premiers haben, innerhalb einer gewissen Bandbreite, ungefähr dasselbe getan, weil sie denselben Nahost-politischen und gesellschaftlichen Sachzwängen unterworfen waren. Und Netanjahu kann auf eine blendende Wirtschaftsentwicklung, beachtliche außenpolitische Erfolge, die relativ gute Bewältigung von Sicherheitskrisen und zuletzt den Sieg über die Corona-Pandemie hinweisen. Aber nach zwölf Jahren Netanjahu in einem Stück (und obwohl Bruno Kreisky und Angela Merkel demonstriert haben, dass man auch 13 und 16 Jahre in einem Stück regieren kann) war es einfach Zeit für neue Gesichter und einen anderen Ton.
Die da und dort überbordende Gehässigkeit der Netanjahu-Gegner ist fehl am Platz, aber wegen seines kantigen, manipulativen Stils und der Überheblichkeit seiner Entourage hatte sich so viel Ärger aufgebaut, dass der Premier zu einer Belastung für sein Land wurde. Letztlich liegt es an der Person Netanjahus, dass Israel in eine innenpolitische Dauerkrise geschlittert ist. Wäre er nach der ersten Wahl oder spätestens nach seiner Korruptionsanklage im November 2019 zurückgetreten, hätte Israel schon längst eine "normale" Regierung.
Bloß nicht wieder wählen
Für die Bildung der "unmöglichen" Regierungen Netanjahu-Gantz und nun Bennett-Lapid sowie die damit verbundenen peinlichen Wortbrüche gibt es natürlich eine plausible Rechtfertigung: Man wollte dem Land eine weitere Wahl ersparen. Ob das diesmal gelingt, ist völlig offen. Die neue Regierung ist derartig heterogen, dass sie eine volle Legislaturperiode von vier Jahren nicht durchstehen kann. Zebricht sie schon nach wenigen Monaten, kommt eben doch gleich wieder Wahl Nummer fünf und womöglich Netanjahus großes Comeback. Will die Koalition ihr Ziel, Netanjahu endgültig aus der Politik zu drängen, erreichen, muss sie so lange Zeit schinden, bis die Likud-Partei in der Opposition vielleicht die Geduld verliert und den Chef austauscht. Auf Netanjahus eventuelle rechtskräftige Verurteilung braucht man vorläufig nicht zu schielen - der Weg durch die Instanzen wird einige Jahre dauern.
Wenn nun in manchen Kommentaren die Schwierigkeit der Regierungsbildung als Anfang vom "Ende der Demokratie" in Israel gedeutet wurde, so ist das ein grober Denkfehler. Parteienvielfalt und häufige Wahlen, nach denen man nicht immer sofort weiß, wer gewonnen hat, sind kein Zeichen von zu wenig, sondern von eher zu viel Demokratie. In Diktaturen gibt es entweder überhaupt keine Wahlen, oder man weiß schon vorher, wer gewinnt.
Wenn der angeblich allmächtige, ja von manchen schon zum "Diktator" gestempelte Netanjahu zwei Jahre lang um die Macht rangeln musste und sie am Ende verloren hat, dürften Israels demokratische Institutionen doch ganz gut funktionieren. Auch der Umstand, dass der Premier vor Gericht gestellt wurde, sollte eigentlich jene beruhigen, die sich um Israels Demokratie sorgen. Trotz aller Komplikationen und Emotionen wurde nun im israelischen Parlament ein geordneter Machtwechsel nach allen Regeln des Grundgesetzes abgewickelt. Das wird nichts daran ändern, dass Israel wegen seiner äußeren Bedrohung, seiner inneren Segmentierung und seines Wahlsystems schwer regierbar ist.•