Die Sozialhilfe verschlechtert die Situation der beziehenden Menschen - insbesondere jener aus dem Ausland.
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Das vergangene halbe Jahr war für Tamara S. erneut kein einfaches. Die mittlerweile 73-Jährige hatte sich doch mit Corona infiziert, leidet nach wie vor an einer Herzschwäche, erzählt sie im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Noch geschwächt stürzte sie zudem, erlitt eine Gehirnerschütterung - und muss ihre Arbeit als Zeitungsausträgerin mit Ende März wieder aufgeben: "Das Aufstehen um ein Uhr Früh kann ich nicht mehr machen. Nachts zu arbeiten hat meiner Gesundheit geschadet."
Rückblick, September 2021: Damals erklärte die frühere Leiterin einer Sparkasse in Tschetschenien, warum sie in Österreich trotz legalen Aufenthaltstitels komplett auf Unterstützung von Hilfsorganisationen, Privatpersonen und Freunden angewiesen ist: Weil Niederösterreich - als einziges Bundesland - Menschen mit humanitärem Schutz weder Sozialhilfe wie Flüchtlingen zugesteht noch eine Grundversorgung wie Asylsuchenden im Verfahren davor. So kommt es, dass Tamara S. und von der Diakonie geschätzte weitere 350 Personen in Niederösterreich keinerlei finanzielle Unterstützung von der öffentlichen Hand und keine Krankenversicherung haben.
Noch ist eine Beschwerde deshalb beim Verfassungsgericht wegen einer alleinerziehenden Frau mit vier Kindern in der gleichen Situation anhängig. Eine Erhebung der Armutskonferenz zu den Auswirkungen der neuen Sozialhilfe auf Menschen, die diese in Nieder- und Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg beziehen, zeigt, dass das nur die Spitze des Eisbergs an negativen Auswirkungen ist.
Die Sozialhilfe sorgt für mehr Härtefälle
2020 bezogen laut Statistik Austria insgesamt 260.114 in Österreich Sozialhilfe oder Mindestsicherung, 37 Prozent davon waren Kinder. Mit 88.492 ist die Gruppe an Menschen aus Drittstaaten in etwa so groß wie jene mit österreichischer Staatsbürgerschaft (87.583), die restlichen kommen aus der EU oder sind staatenlos.
Für die Studie unter dem Titel "Die im Dunkeln sieht man nicht" hat die Armutskonferenz nun 150 Expertinnen und Experten aus dem Sozialbereich in jenen Ländern befragt, die das türkis-blaue Bundesgesetz zur Sozialhilfe als Erste in Landesgesetzen umgesetzt haben: Das sind Nieder- und Oberösterreich mit Anfang 2020, Salzburg ein Jahr später, und Vorarlberg folgte im April 2021. Die Erhebung soll aufzeigen, ob und wie die neuen Gesetze die Situation der Beziehenden verbessert oder verschlechtert haben.
Mehr als zwei Drittel, konkret 68 Prozent, sagten, sie habe sich verschlechtert; 84 Prozent, dass die Verfahren nicht einfacher, sondern komplexer, und 81 Prozent, dass sie langsamer und ineffizienter wurden. Für Menschen wie Tamara S. besonders schwierig ist, dass mit den neuen Regelungen in Nieder- und Oberösterreich nun 75 Prozent sagen, dass sich Härtefälle noch schlechter als davor mit der Mindestsicherung vermeiden lassen. In Salzburg sagten das 72 Prozent, in Vorarlberg 47 Prozent.
Um Härtefälle zu verhindern, braucht es laut Carmen Bayer, Soziologin und bei der Salzburger Armutskonferenz engagiert, eine treffsichere Erhöhung von Transferleistungen wie Arbeitslosengeld und Notstandshilfe davor "statt Einmalzahlungen und einen kompletten Neustart statt der aktuellen Sozialhilfe mit zumindest dem alten Leistungsniveau, sonst verfestigt sich Armut."
Am schlechtesten für jene aus dem Ausland
Nach Personengruppen befragt, zeigt die Erhebung der Armutskonferenz, dass sich das Leben von Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft mit der Sozialhilfe deutlich verschlechtert hat: Das sagten 78 Prozent, 17 Prozent sahen keinen Unterschied, 5 Prozent eine Verbesserung. Es ist der schlechteste Wert unter allen, wobei auch die Situation von Kindern und Jugendlichen (69 Prozent), Menschen mit Behinderung (47 Prozent) und von Alleinerziehenden (46 Prozent) schlechter wurde.
In der Studie sind zahlreiche Beispiele zu finden, darunter auch ein Dialysepatient mit Herzschrittmacher und weiteren schweren Erkrankungen in Niederösterreich, der, weil "nicht arbeitsfähig, seit Jänner kein Einkommen und keine Krankenversicherung hat", obwohl er seit 15 Jahren in Österreich lebt und ihm humanitärer Aufenthalt gewährt wurde - so wie Tamara S.
Bayer ist davon überzeugt, dass das Gesetz "Migrantinnen und Migranten definitiv von der Sozialhilfe fernhalten soll, das steht schon im Grundsatzgesetz". Tatsächlich ist verankert, dass es auch "integrationspolitische und fremdenpolizeiliche Ziele" berücksichtige. Gelungen sei das laut der Soziologin aber nicht, denn: "Es ist zynisch zu glauben, je prekärer die Situation, desto eher gibt es Arbeit. Im Gegenteil, man muss gesund und ausgeschlafen dafür sein. Wie sollen es Menschen jemals zurück in die Selbständigkeit schaffen, wenn das System Armut verfestigt?", fragt sich Bayer.
Die Schlechterstellung von Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft kennen auch Leute aus der Praxis so wie Susanna Paulweber, Sozialrechtsexpertin des Diakonie Flüchtlingsdiensts: "Es ist ein Trend, der sich nach 2015 zunehmend abzeichnete, da wurde mit der Abschottung gestartet. Seitdem wird daran gearbeitet, um den Mythos eines Pullfaktors ausräumen."
Manche Schlechterstellungen gingen dem Verfassungsgerichtshof (VfGH) schon 2019 zu weit, etwa die niedrigen Sätze für Kinder in kinderreichen Familien oder ein Nachweis von Deutschkenntnissen. "Da hat der Verfassungsgerichtshof klare Schranken eingezogen und gesagt, dass man Flüchtlinge gleichbehandeln muss", sagt Paulweber. Die Bundesländer hätten aber viel Gestaltungsspielraum bei ihren Gesetzen: "Man darf Österreich offenbar unattraktiv machen für Menschen aus dem Ausland."
Bundesländer hätten mehr Gestaltungsspielraum
Wobei es Unterschiede gibt: Menschen mit humanitärem Schutz wird bis auf Niederösterreich in allen Bundesländern zumindest die Grundversorgung gewährt. Mit einem monatlichen Mietzuschuss von 150 Euro und Verpflegungsgeld von 215 Euro für Einzelpersonen wäre auch diese Unterstützung zwar weit geringer als die 977,94 Euro Sozialhilfe in Niederösterreich, die Betroffenen aber wären krankenversichert. Wären, denn anders als Oberösterreich oder Salzburg hat Niederösterreich sein Grundversorgungsgesetz nicht geändert. Das Land argumentiert mit möglichen Änderungen des Titels nach einem Jahr. Aus diesem Grund erhielten, so Paulweber, auch nur jenen mit einem "Daueraufenthalt EU" Sozialhilfe: "Das aber ist unrealistisch, die Voraussetzungen dafür sind enorm hoch: Deutsch auf B1-Niveau und ein Einkommen von 1.300 bis 1.500 Euro."
Deshalb die Beschwerde der Alleinerzieherin. Gibt der VfGH ihr Recht, müsste das Land auch die anderen in Grundversorgung nehmen. Mit einem Erkenntnis rechnet die Diakonie aber frühestens im Juni. Bis dahin ist Tamara S. jedenfalls auf Unterstützung angewiesen. Weil das Land ausfällt, wird die Gemeinde die Kosten ihrer Wohnung tragen. Freunde bezahlen ihre Krankenversicherung nach dem Ende ihres Jobs Ende März weiter, unterstützen sie mit Lebensmittel. "Ich bin sehr, sehr, sehr dankbar, aber schön ist das nicht. Ich schäme mich auch, aber was soll ich machen?", sagt sie.