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Als politische Bombe, als Erdbeben, das Frankreich in eine schwere politische Krise stürze, wurde Sonntag Abend das Ergebnis des ersten Durchganges der französischen Präsidentenwahlen kommentiert. Zu sicher war man gewesen, dass die Paarung bei der Stichwahl am 5. Mai Chirac gegen Jospin heißen würde, wie schon vor sieben Jahren. Der Chef der rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, galt als Auslaufmodell, das allenfalls noch ein Achtungsresultat heimfahren würde, genährt durch Protestwähler, die keinem der 15 anderen Kandidaten ihre Stimme geben wollten.
Es ist anders gekommen. Le Pen hat den etwas farblosen sozialistischen Premier Lionel Jospin aus der Stichwahl gekippt, in neun von 22 Regionen im französischen Mutterland klar die relative Mehrheit erreicht und tritt nun in knapp zwei Wochen gegen den amtierenden Präsidenten Chirac an, wobei Le Pens Aussagen am Wahlabend eine regelrechte Schlammschlacht erwarten lassen.
Frankreich und darüber hinaus ganz Europa stehen unter Schock. Nach den Erfolgen rechtspopulistischer Parteien in mehreren europäischen Ländern bei Wahlen in den letzten Jahren - Österreich, Italien, Norwegen, Dänemark und zuletzt bei den Kommunalwahlen in den Niederlanden - hat die extreme Rechte nun auch in Frankreich ein kräftiges Lebenszeichen von sich gegeben. Rund ein Fünftel der französischen Wähler haben am Sonntag für Le Pen und seinen Klon Bruno Megret gestimmt. Allerdings haben alle anderen Kandidaten, bzw. deren Unterstützer schon in der Wahlnacht dazu aufgerufen, bei der Stichwahl Chirac zu unterstützen und erste Umfragen zeigen auch, dass Le Pen am 5. Mai nicht mit wesentlich mehr Stimmen rechnen kann als im ersten Wahlgang.
Was aber hat den Erfolg Le Pens am Sonntag möglich gemacht? Laut Umfragen des französischen Fernsehens glauben mehr als die Hälfte der Franzosen, dass er für ihre Probleme Verständnis hat. Die Rolle eines Staatsmanns gesteht ihm allerdings nicht einmal die Gänze seiner Wählerschaft zu.
Die traditionellen Parteien versuchten in der Wahl genau mit jenen Themen zu punkten, die Le Pen schon seit vielen Jahren zu seinen Wahlschlagern gemacht hatte: Sicherheit und Einwanderung. Weder Jacques Chirac, der unter einem Rattenschwanz von Affären zu leiden hat, noch sein sozialistischer Herausforderer Lionel Jospin konnten mit großem politischen Charisma aufwarten, wie etwa Chiracs Vorgänger Francois Mitterand. Und die vielen Zwerge, die bei dieser Wahl angetreten sind, auch nicht. Sowohl das bürgerliche Lager als auch die Linke glaubte sich den Luxus leisten zu können, mit einer Unzahl von Kandidaten in die Wahl zu ziehen - allein die Trotzkisten stellten zwei Kandidaten, die Grünen zwei und die bürgerliche UDF ebenfalls zwei. Die Stimmenaufsplitterung kam Le Pen zugute, der den biederen Jospin bei extrem niedriger Wahlbeteiligung von nur 72,6 Prozent um gerade einen Prozentpunkt aus dem Rennen warf. Jospin, dessen fünfjährige Regierungsbilanz sich durchaus sehen lassen kann, erleidet damit das gleiche Schicksal wie seine sozialdemokratischen Regierungskollegen in Österreich, Italien, Norwegen und Dänemark, die in den vergangenen Jahren ebenfalls Wahlen verloren haben, weil sie Zukunftsvisionen vermissen ließen.