Der diesjährige Literaturnobelpreis geht nach langer Zeit wieder an einen gebürtigen Südafrikaner. John Maxwell Coetzee wird am 10. Dezember - nach Nadine Gordimer - als zweiter weißer Schriftsteller aus Südafrika den begehrten Preis in Stockholm entgegennehmen. Die Jury lobte den präzisen analytischen Schreibstil seiner Werke, die vermeintliche Errungenschaften der westlichen Zivilisation entlarven und Rassismus, Doppelmoral und Stereotypisierungen anprangern.
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Oft scheint es, als wäre Afrika nur für Schlagzeilen über blutrünstige Kriege oder Flüchtlingsströme gut. Die diesjährige Verleihung des Literaturnobelpreises an einen Südafrikaner beweist das Gegenteil.
Coetzee, Sohn eines Rechtsanwaltes und einer Lehrerin, wurde 1940 in die grausame Zeit der Apartheid hineingeboren. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Themen wie Rassismus und Segregation in Südafrika ständig wiederkehrende Motive in seinem schriftstellerischen Werk darstellen. Seine Kombination aus hohem ästhetischen und ethischen Anspruch, war für die Jury entscheidend. Der schwedische Preisstifter Alfred Nobel (1833-1896) hatte testamentarisch festgehalten, dass derjenige den Preis erhalten solle, "der in der Literatur das Ausgezeichnetste in idealistischer Richtung hervorgebracht hat." Das Werk müsse von hohem literarischem Rang sein und dem Wohl der Menschheit dienen.
Gegen Menschenverachtung
Diese Kriterien erfüllt der südafrikanische Schriftsteller, Literaturwissenschaftler, Kritiker und Übersetzer bei weitem. Coetzee schreibt gegen Krieg, Intoleranz und alle anderen Formen der Menschenverachtung. So schildert er mit seinem Erzählband "Dusklands" zwei unterschiedliche Kriege - beide schreckliche Formen von Menschenverachtung - die eine intellektuell und größenwahnsinnig, die andere barbarisch. Er zeichnet die Figur eines Mannes, der im Vietnam-Krieg ein unüberwindbares System der psychologischen Kriegsführung entwickeln möchte, und stellt dem den Bericht eines Buren gegenüber, der eine Entdeckungsreise im südlichen Afrika des 18. Jahrhunderts unternimmt. "Warten auf die Barbaren" heißt diese Parabel auf den Apartheidsstaat, in dem der Nobelpreisträger Probleme wie willkürliche Verhaftungen, Folter und Prozesse unter Ausschluß der Öffentlichkeit behandelt. Für zwei weitere Romane, "Leben und Zeit des Michael K." und "Schande", erhielt er als erster und bislang einziger Autor den Booker-Preis, die angesehenste Literaturauszeichnung Großbritanniens.
Eine vielgeprüfte Liebe
Eines der Werke, mit dem Coetzee internationale Berühmtheit erlangte, ist der stark autobiographische Roman "Ein Junge". Er handelt von der Kindheit eines weißen Jungen, der schon so früh mit Doppelmoral, Ungerechtigkeit und Stereotypisierung konfrontiert wird. Sofort erkennt man in dem verträumten, einzelgängerischen, neugierigen Jungen den späteren Schriftsteller. In kraftvollen Bildern und klarer, beinahe nüchterner Sprache und beobachtender Distanz erzeugt er starke Gefühle und lässt die starke Liebe zu dem Land spüren, keine verklärte Liebe allerdings, sondern eine "trotz allem"-Zuneigung - als sei Südafrika für ihn wie ein Kind, das man einfach lieben muss, egal was es anstellt.
Universelle Gültigkeit
In Coetzees Werk sind es die Außenseiter, die zu Akteuren der Handlung werden. Unverkennbar sind seine Texte vom Rassenkonflikt geprägt, aber sein Werk behält trotz Anspielungen auf das das unmenschliche Apartheidsystem eine universelle Gültigkeit. Die Jury lobte zudem die "verschlagene Komposition und analytische Brillanz" sowie seine Gabe "die Teilhaftigkeit des Menschen an der Vielfalt des Daseins in oft überrumpelnder Weise" darzulegen. Coetzee sei ein "gewissenhafter Zweifler - schonungslos in seiner Kritik der grausamen Vernunft und kosmetischen Moral der westlichen Zivilisation".
So klar und präzise die Sprache des studierten Literaturwissenschaftlers und Mathematikers ist, der auch eine zeitlang als Programmierer gearbeitet hat, so undurchsichtig ist sein Leben. Der scheue Schriftsteller gibt extrem selten Interviews und über sein Privatleben ist wenig bekannt.
Die diesjährige Entscheidung für Coetzee, der schon seit fast zehn Jahren zu den Favoriten für den Literaturnobelpreis zählt, überraschte niemanden - mit Ausnahme einer Person: dem Preisträger selbst. Der fiel aus allen Wolken und sagte, er hätte telefonisch davon erfahren. Es sei ihm nicht einmal bewusst gewesen, dass die Entscheidung überhaupt anstand. Dieses Aussage gibt wieder Wasser auf die Mühlen derjenigen, die in Coetzee einen intellektuellen Eremiten sehen, der in seiner eigenen Welt lebt.
Wenn J. M. Coetzee am 10. Dezember der Literaturnobelpreis verliehen wird, bedeutet das für Afrika, dass der Kontinent aus positivem Anlass in den Medien ist und nicht nur über negative Ereignisse wahrgenommen wird.