Der "Eisenmann", eine kleine religiöse Statue aus Tibet, gibt der Wissenschaft Rätsel auf. Denn sie ist aus einem ungewöhnlichen Material gefertigt - aus einem Meteoriten.
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Ab dem 14. November 2012 steht der weltberühmte, nun umgestaltete Meteoritensaal des Naturhistorischen Museums in Wien (NHM) wieder den Besuchern offen. Als besondere Attraktion lockt der Steinmeteorit Tissint, der einst vom Mars in Richtung Erde geschleudert wurde. Eine ganz andere Geschichte ist jedoch mit dem Eisenmeteoriten Chinga verknüpft, wie deutsche Wissenschafter jetzt gemeinsam mit Mitarbeitern des NHM herausfanden.
Vor 10.000 bis 20.000 Jahren rast ein Bruchstück eines zwischen Mars und Jupiter kreisenden, eisernen Kleinplaneten auf die Erde zu. Niemand weiß, wie groß dieser Irrläufer ist. Nach Millionen Jahre währender Reise durchs All taucht das Geschoss mit über 43.000 km/h in die Erdatmosphäre ein. Die Luft vor ihm gerät zur "Wand". Dank seiner soliden Konsistenz zerreißt es den Eisenboliden erst ein paar Kilometer über Grund. Die Trümmer regnen beim Tannu-Gebirge herab, an der Grenze zwischen Sibirien und der Mongolei. Ob Menschen das Schauspiel mitansehen, ist unklar. Eis bedeckt die Region damals. Gletscher und das Schmelzwasser zu Ende der Kaltzeit nehmen die Meteorite mit, setzen sie anderswo ab. Später decken Gestein, Ablagerungen und schließlich Vegetation die Eisenbrocken zu.
Goldrausch am Chinga
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts treffen russische Goldwäscher in Urjanchai ein. Sie fahnden in Flusssedimenten nach Goldpartikeln. Gelegentlich stoßen sie sogar auf richtige Klumpen des begehrten Edelmetalls. Fündig werden sie vor allem in den Schwemmböden des Chinga (Tschinge) und des Argolik. Deren Wasser ergießt sich weiter nördlich in den Jenissei.
Der Ingenieur Nikolai Tschernewitsch macht ein Vermögen mit diesem Gold. Seinen Arbeitern gehen aber auch seltsame Eisenbrocken ins Netz. Tschernewitsch sammelt diese Fundstücke, deren größtes immerhin 20,5 kg wiegt. Er glaubt an einen kosmischen Ursprung. 1912 bringt er etliche Eisenstücke vom Chinga nach St. Petersburg. Doch die Gelehrten der Russischen Akademie der Wissenschaften bezweifeln einen meteoritischen Charakter der Proben.
Tschernewitsch kehrt nach Urjanchai zurück. 1917 nutzen Verbrecher die Wirren des russischen Bürgerkriegs und überfallen ihn. Da er sich hartnäckig weigert, seine Goldverstecke zu nennen, foltert man ihn, schneidet ihm die Ohren ab und bringt ihn schließlich um.
Die Chinga-Eisen sind längst als Meteorite anerkannt, als sowjetische Wissenschafter das Fundgebiet im Jahr 1963 durchkämmen. Sie suchen nach Kratern, wie sie Jahre zuvor beim Meteoriteneinschlag in Sikhote-Alin entstanden sind - vergeblich. Mit Metalldetektoren fördert man später aber weitere Chinga-Fragmente zutage: In Summe werden mindestens 250 geborgen. Sie liegen oft 2,5 bis 3 Meter tief in den Schwemmböden vergraben. Dies lässt, zusammen mit der Geologie des eiszeitlichen Tales, wenigstens eine grobe Altersbestimmung zu.
Ohne Struktur
Die meisten bekannten Eisenmeteorite präsentieren, einmal angeätzt, die eigentümliche "Widmanstätten-Struktur". Sie ist nach dem Grazer Alois von Widman-stätten benannt und entsteht durch das Zusammenspiel zweier Minerale: Der damals in Wien lebende Stuttgarter Karl von Reichenbach taufte diese im Jahr 1861 "Kamazit" und "Taenit". Der Chinga-Meteorit kann kein derartiges Muster ausbilden, denn er besteht fast nur aus dem Nickel-Eisen-Mineral Taenit. Für diese seltenen Meteorite ersann Gustav Tschermak, einst Leiter des k.k. Mineralogischen Hof-Cabinets in Wien, den Klassennamen "Ataxite" - was so viel wie "ohne Struktur" bedeutet. Ataxite zeichnen sich durch besonders hohen Nickelgehalt aus. Beim Chinga sind es immerhin 16 Prozent.
Heute teilt man die Eisenmeteorite, je nach dem Verhältnis bestimmter Spurenelemente, außerdem einem guten Dutzend chemischer Gruppen zu. Der Chinga will sich nicht einordnen lassen. Er ist "ungruppiert", wie Fachleute sagen. Urjanchai, sein Fundgebiet, gehört jetzt zur Republik Tuwa: die zählt zur Russischen Föderation, ist fast doppelt so groß wie Österreich, aber von nur 310.000 Menschen bevölkert. Die Mehrzahl der Tuwiner hängt dem tibetischen Buddhismus an.
1938 reist der Zoologe Ernst Schäfer zum dritten Mal nach Tibet, diesmal als SS-Untersturmführer. Seine Expedition wird von der "Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe" finanziert und steht unter der Schirmherrschaft des "Reichsführers SS", Heinrich Himmler. Die Nazis fahnden in der Abgeschiedenheit des tibetischen Hochlands nach Nachkommen "arischer" Vorfahren. Sie suchen in alten Schriften nach Hinweisen auf eine "arische" Urreligion. Bruno Beger misst die Schädelproportionen von Hunderten Tibetern. Später wird er ähnliche Messungen im KZ Auschwitz anstellen: 86 seiner dortigen Probanden werden kurz danach im Lager Natzweiler für eine geplante Skelettsammlung ermordet. Eines der Opfer ist die Wienerin Elisabeth Klein.
Ein Teil der 1938 und 1939 in Tibet gesammelten Exponate kommt ins "Haus der Natur", das damals ebenfalls dem "Ahnenerbe" untersteht. Das Salzburger Museum ist berühmt für seine dreidimensionalen Dioramen: Modellfiguren und naturalistische Modelllandschaften werden vor einem stimmig gemalten Hintergrund gezeigt. Hände und Gesichter der Figuren sind nach Abformungen Begers angefertigt worden. Später wird sich das Museum vom nationalsozialistischen Entstehungszusammenhang der vier Tibet-Dioramen distanzieren.
Ein anderes Mitbringsel der Expedition, eine 24 cm hohe und 13 cm breite Skulptur, verbleibt in Deutschland: Bereits ihr Gewicht von 10,6 kg weist auf den eisernen Werkstoff hin. Vermutlich ist es die Swastika am Schuppenpanzer der Männergestalt, die die SS-Leute zur Mitnahme des Kunstwerks veranlasst hat. Als Zeichen für Glück, Überfluss oder Beständigkeit kennt man die Swastika in Asien seit Jahrtausenden. Schon vor Schäfers Reise haben die Nazis die nach rechts gewinkelte Version auf die Spitze gestellt und dieses Hakenkreuz als Symbol der "arischen Rasse", der NSDAP und des Deutschen Reichs missbraucht.
Der Eisenmann
Die Skulptur selbst landet nach dem Krieg in einer Privatsammlung und wird schließlich versteigert. Seit 2007 ist eine deutsch-österreichische Wissenschaftergruppe um Elmar Buchner vom Institut für Planetologie der Universität Stuttgart dem wahren Werkstoff dieses Kunstwerks auf der Spur.
Dem Team gehört Franz Brandstätter an, Abteilungsdirektor und Kurator der Meteoritensammlung des Naturhistorischen Museums in Wien. Auch Gero Kurat, der langjährige Leiter der Mineralogisch-Petrographischen Abteilung des NHM, arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 2009 mit. Die Gruppe entnahm Proben vom Sockelboden und analysierte diese. Erstes Ergebnis: Der "Eisenmann" besteht eindeutig aus einem Eisenmeteoriten, und zwar aus einem Ataxit.
Weitere geochemikalische Erkenntnisse gewannen die Forscher mit Instrumenten des Departments für Lithosphärenforschung der Universität Wien. Sie setzten dort die Elektronenstrahlmikroanalyse und die Massenspektrometrie ein. Dabei konzen-trierten sie sich auf charakteristische Elemente wie Eisen, Nickel, Cobalt, Chrom oder Gallium. Das Ergebnis veröffentlichten sie jetzt in einer Fachzeitschrift der renommierten Meteoritical Society. Fazit: Die Häufigkeiten der genannten Elemente im "Eisenmann" stimmen exakt mit jenen im Ataxit aus Chinga überein!
Ein Exemplar des Chinga-Meteoriten wurde demnach schon lange vor Tschernewitschs Entdeckung in ein Kunstobjekt verwandelt. Dabei eignen sich Eisenmeteorite, so betonen die Forscher, denkbar schlecht für Skulpturen; der Künstler war sich also bewusst, einen zumindest außergewöhnlichen Werkstoff in Händen zu halten. Wie die Wissenschafter spekulieren, könnte das Kunstwerk der Bön-Religion entstammen, der man in Tibet huldigte, bevor sich der Buddhismus dort ausbreitete.
Der doppelte Glorienschein um Körper und Kopf weist den "Eisenmann" als Gottheit aus. Aus der leicht hängenden Haltung des rechten Beins, dem mutmaßlichen Geldbeutel in der Linken und dem Schuppenpanzer schließen die Forscher vorsichtig auf den Gott Vaisravana. Er galt als Bewacher des Nordens, als Spender von finanziellem Glück und Reichtum sowie als Beschützer der Kämpfer. In Tibet nannte man ihn Namtösé. Da er später mit größerer Leibesfülle porträtiert wurde, siedeln die Wissenschaftler die Entstehung der Skulptur zwischen dem 8. und dem 11. Jahrhundert an. Anfangs beeinflussten Bön-Religion und tibetischer Buddhismus einander gegenseitig.
Der "Eisenmann" kann somit künstlerische Charakteristika beider Weltanschauungen in sich vereinen. Sein tatsächlicher Entstehungsort, sein wahres Alter und seine religiöse Bedeutung bleiben aber recht unsicher. Hier erhoffen sich die Meteoritenforscher weitere Impulse von Archäologen und Völkerkundlern.
Die Darstellung einer menschlichen oder göttlichen Gestalt aus meteoritischem Material ist, soweit bekannt, ohne Beispiel. Der Wert des "Eisenmanns" ist demnach unschätzbar groß - weshalb sein aktueller Aufenthaltsort auch nicht preisgegeben wird.
Christian Pinter, geboren 1959, lebt als Fachjournalist in Wien und schreibt im "extra" über astronomische Themen . Internet: www.himmelszelt.at