Mario Draghis Nachfolger als EZB-Chef könnte Jens Weidmann werden. Wie werden die anderen EU-Spitzenjobs besetzt?
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 6 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Frankfurt/Wien. Im Sommer 2012 stand alles auf der Kippe. Investoren spekulierten damals auf ein Ende des Euro und trieben damit die Zinsen für Staatsanleihen in den ohnehin schon schwer angeschlagenen europäischen Krisenländer noch weiter in die Höhe. In der Folge schafften es mit Spanien und Italien gleich zwei zentrale Euro-Staaten nicht mehr, die Investoren zu überzeugen, ihnen zu vertretbaren Konditionen Geld zu borgen. Der Euro schien sturmreif geschossen, überall kursierten Notfallpläne, mit denen die Folgen des totalen Kollaps der Gemeinschaftswährung so gut wie eben möglich gedämpft werden sollten.
Dass es dann doch nicht so weit gekommen ist, ist vor allem auch einem Mann zu verdanken. Mit der Ankündigung, die Europäische Zentralbank (EZB) werde alles tun, was nötig sei, um den Euro zu retten, kaufte Mario Draghi den Spekulanten in der Stunde die Schneid ab. Zurückgezuckt sind die Märkte damals aber nicht nur angesichts der enormen finanziellen Feuerkraft der zweitgrößten Notenbank der Welt. Der seit 2011 an der Spitze der EZB stehende Italiener vermittelte auch jene bedingungslose Entschlossenheit im Kampf für die gemeinsame Währung, die den Politikern zu dieser Zeit abging.
Vieles spricht für Deutschland
Entschlossenheit werden mit Sicherheit auch jene Bewerber brauchen, die dem "Euro-Retter" Draghi nach dessen Ausscheiden im Oktober 2019 nachfolgen wollen. Nicht sicher ist hingegen, ob der künftige EZB-Präsident auch den von Niedrigzinsen und umstrittenen Anleihenkäufen geprägten geldpolitischen Kurs seines Vorgängers fortsetzen wird. Denn das große EZB-Personalkarussell hat sich eben erst zu drehen begonnen. Und neben dem Präsidentenposten sind noch viele andere Spitzenjobs wie etwa der des Chefvolkswirts zu vergeben, deren Besetzung unmittelbare Auswirkung bei der Entscheidung für das höchste Amt hat.
Rein formal spricht vieles dafür, dass der künftige EZB-Chef aus Deutschland kommt. Vor Draghis Amtszeit standen mit Wim Duisenberg und Jean-Claude Trichet ein Niederländer und ein Franzose an der Spitze der Bank. Deutschland, die stärkste Volkswirtschaft Europas, war in der Vergangenheit dagegen leer ausgegangen und wäre damit jetzt gewissermaßen an der Reihe, das wohl mächtigste Amt der europäischen Finanzwelt zu beschicken.
Kompetent, aber umstritten
In den vergangenen Wochen sind zudem schon zwei wichtige Entscheidungen gefallen, die einen aus Deutschland stammenden EZB-Chef wahrscheinlicher werden lassen. So haben die EU-Staats- und Regierungschefs am Donnerstag den Spanier Luis de Guindos endgültig als neuen EZB-Vizepräsidenten abgesegnet, nachdem Irland seinen Kandidaten Philip Lane schon zuvor zurückgezogen hatte. Anfang Dezember war zudem mit dem Portugiesen Mario Centeno ein weiterer Südeuropäer neuer Chef der Euro-Gruppe geworden. Gemäß der stets fein austarierten europäischen Machtarithmetik wären damit die nördlichen Länder am Zug, wenn es darum geht, den EZB-Präsidenten zu stellen.
Mit Jens Weidmann hätte Deutschland auch einen geeigneten Kandidaten für den Spitzenjob. Der Bundesbankchef und ehemalige Wirtschaftsberater von Kanzlerin Angela Merkel verfügt nicht nur über die fachliche Kompetenz, sondern er gilt auch als freundlich und bescheiden. Zudem wird ihm die nötige Sensibilität zugetraut, um zwischen den verschiedenen Polen vermitteln zu können. Doch Weidmann ist nicht unumstritten. Denn der 49-Jährige, der am Montag einen Vortrag in der Oesterreichischen Nationalbank halten wird, kann trotz aller Verbindlichkeit in der Sache unangenehm hart sein. Vor allem aber steht er klar für eine möglichst rasche Abkehr vom bisherigen EZB-Kurs. Schon in den vergangenen Jahren hat sich Weidmann immer wieder öffentlich gegen die ultralockere Geldpolitik gestellt, mit der die EZB vor allem die lange Zeit sehr niedrige Inflation zu bekämpfen versucht hat. Weidmanns Argumente sind dabei die gleichen, die viele deutsche Volkswirte anführen: So seien die niedrigen Zinsen für den Süden zwar zu rechtfertigen, in wirtschaftlich starken Ländern würden damit aber gefährliche Blasen auf den Finanz- oder Immobilienmärkten entstehen.
Auf heiklem Terrain
Dass Investoren das billige Zentralbankgeld nun schon seit Jahren dafür verwenden, um massiv in Betongold oder Aktien zu investieren, ist aus Weidmanns Sicht zudem nicht das einzige Problem. Stets hat der Bundesbank-Chef auch durchklingen lassen, dass er ein Nachlassen des Reformeifers im Süden befürchtet, wenn die Staaten grundlegende Strukturprobleme auch dadurch entschärfen können, dass sie zu sehr günstigen Konditionen neue Schulden machen können.
Für einen aus Deutschland stammenden Notenbanker ist das durchaus ein heikles Terrain, auf dem nur allzu rasch wieder neue Verwerfungen entstehen können. Schließlich ist es keine zehn Jahre her, dass das Bild des deutschen Zuchtmeisters, der die anderen Staaten unbarmherzig zum Sparen zwingt, durch die europäischen Krisenländer gegeistert ist. Und wie sehr sich dabei der Hass aufstauen kann, hat vor allem Merkel schon einmal miterleben müssen. Auf den Straßen von Athen protestierten die Demonstranten am Höhepunkt der Griechenland-Krise mit Plakaten, auf denen die Kanzlerin mit Hitler-Bärtchen abgebildet war.
Massiven Gegenwind gegen Weidmann dürfte es daher auch heute geben. "Der Widerstand ist sicherlich bei den Italiener groß und bei den südeuropäischen Sozialdemokraten am größten", sagt Thomas Wieser, der als ehemaliger Vorsitzender der Eurogroup Working Group die komplexen Befindlichkeiten ganz genau kennt, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung". Der von Weidmann angestrebte Kurswechsel ist zudem ein Minderheitenprogramm. Denn obwohl Europas Wirtschaft so stark wächst wie seit 2007 nicht mehr, wollen die meisten der 25 EZB-Ratsmitglieder die lockere Geldpolitik noch lange fortsetzen. "Die Südeuropäer fürchten vor allem, dass der Markt überreagiert, wenn man zu früh aussteigt", sagt Carsten Brzeski, Chefvolkswirt der Großbank ING-Diba. "Deshalb möchte man das möglichst behutsam zu Ende bringen."
Alles im Paket
Viel wird daher davon abhängen, wie sehr Merkel gewillt ist, Weidmann durchzukämpfen. Denn ohne die entschiedene Unterstützung der Kanzlerin ist ein Aufrücken ihres ehemaligen Beraters an die Spitze der EZB kaum vorstellbar. Bisher hat sich Merkel noch nicht öffentlich positioniert, Insidern zufolge gibt es allerdings in der CDU eine Mehrheit, die sich den derzeitigen Bundesbank-Chef als Nachfolger von Draghi wünscht.
Doch Merkel wird in der Sache wohl gründlich abwägen. Denn in der CDU sind in den vergangenen Wochen auch viele Stimmen laut geworden, die befürchten, dass für die Personalie Weidmann vielleicht ein zu hoher Preis bezahlt werden müsste. Szenarien dafür sind in letzter Zeit schon häufig kursiert: Demnach könnten die Südeuropäer im Gegenzug für ihre Zustimmung auf ein Entgegenkommen bei der Bankenunion oder dem Aufbau einer Transferunion drängen. Auch eine weniger strikte Haltung bei Fragen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes ist zuletzt als mögliches Abtauschobjekt aufgetaucht.
Eine entscheidende Rolle werden zudem die nächsten Europawahlen spielen, die im Frühjahr 2019 stattfinden. Denn mit der Abstimmung ist auch die Vergabe der wichtigsten Posten in der EU verbunden. So darf Ratspräsident Donald Tusk nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren, und auch Jean-Claude Juncker hat nach fünf Jahren als Kommissionspräsident keine Lust mehr auf ein neuerliches Antreten.
Wer neuer Kommissionspräsident und wer neuer Ratspräsident wird, hat dabei unmittelbare Auswirkungen auf die Bestellung der neuen EZB-Spitze. "Die Nachfolge von Tusk, Draghi und Juncker wird zeitgleich beschlossen, das ist alles ein Paket", sagt Wieser. Doch dieses Paket ist alles andere als einfach zu schnüren, denn nach altbekannter EU-Logik gilt es dabei möglichst alle zu berücksichtigen. So müssen die kleinen Länder ebenso zufriedengestellt werden wie die großen, und linke Parteien müssen genauso bedient werden wie rechte. Gleiches gilt natürlich auch für Männer und Frauen sowie für nördliche, südliche und östliche Länder. "Das ist natürlich ein absolut großer europäischer Kuhhandel", sagt Brzeski. Gleichzeitig darf eine bestimmte Gruppe aber auch nicht zu viel bekommen. So ist es etwa ausgeschlossen, dass der EZB-Chef aus dem selben Land kommt wie einer der beiden EU-Präsidenten. Ebenso dürfte es schwierig werden, ausschließlich Männer in die drei wichtigsten europäischen Ämter zu hieven.
Pragmatisch an der Spitze
Damit spricht einiges für Weidmann, und einiges gegen ihn. So ist es aus derzeitiger Sicht relativ unwahrscheinlich, dass es einen deutschen Kandidaten für den Posten des Kommissionspräsidenten oder Ratspräsidenten geben wird, womit die Chance auf einen deutschen EZB-Präsidenten steigen. Auf den Kopf könnte Weidmann dagegen die bisher geringe Repräsentation von Frauen fallen. Denn aktuell sitzen nur zwei Frauen im 25-köpfigen EZB-Rat. Und das Direktorium der Notenbank weist mit der deutschen Sabine Lautenschläger überhaupt nur eine Frau auf.
Doch lohnt es sich aus deutscher Sicht überhaupt, das ganze politische Gewicht für einen Kandidaten Weidmann in die Waagschale zu werfen? Denn so streng und stabilitätsorientiert, wie man sich das in Deutschland wünscht, wird Weidmann als oberster Währungshüter Europas wohl nicht agieren können. Schließlich muss der EZB-Chef seine Entscheidungen am Wohl der gesamten Eurozone ausrichten. Sonderwünsche einzelner Länder können da schon allein aufgrund des Mandats der EZB keine Rolle spielen. "Weidmann ist auch kein Überzeugungstäter", sagt Brzeski. "An der Spitze der EZB würde er wahrscheinlich viel pragmatischer und europäischer auftreten, als dass jetzt viele Leute erwarten." Enttäuschungen in Berlin wären damit gewissermaßen programmiert. "Auf einmal müsste ein hochangesehener Deutscher sich hinstellen und verteidigen, was in der EZB beschlossen wird", sagt Wieser.
Die Falken im Aufwind
Hinzu kommt dass sich die europäische Geldpolitik, ganz unabhängig davon, wer nun an die Spitze der EZB steht, in eine Richtung entwickeln dürfte, die mehr den deutschen Vorstellungen entspricht. Denn nicht nur die gut laufende Wirtschaft verschafft den geldpolitischen Falken gute Argumente für eine Straffung. Auch die Gefahr einer Deflation scheint mittlerweile so weit gebannt, dass Zinserhöhungen in absehbarer Zeit zu rechtfertigen sind. Zumal sich Europa wohl nicht vollständig von den Entwicklungen in den USA abkoppeln wird können. Dort hatte die Notenbank Fed die Zinswende bereits Ende 2015 eingeleitet, in diesem Jahr dürfte es drei oder sogar vier weitere Erhöhungen geben, womit die Leitzinsen in den USA Ende 2017 bei deutlich über zwei Prozent liegen dürften. Brzeskis Einschätzung zufolge dürfte in der Eurozone daher zumindest das Anleihenkaufprogramm beendet sein, wenn der neue EZB-Chef 2019 sein Amt antritt. "Und wenn alles normal läuft, hat es auch schon eine oder zwei Zinserhöhungen gegeben."