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Ein Hauch von Anarchie

Von Simon Rosner

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Die EM versetzt Wien in einen Ausnahmezustand. Und das ist gar nicht einmal so schlecht.


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Die Euro macht schon Spaß. Warum kann sie denn nicht länger dauern? Zumindest ein paar Jahre. Ich würde zwar nicht mehr Sportjournalist sein wollen, da der Spaß durch den Stress ein wenig leidet, aber sonst ...

Obwohl mehr Polizisten in der Stadt unterwegs sind als normalerweise, obwohl man beim Besuch der Fanzone handgreifliche Leibesvisitationen erlebt, wie man das seinem Hausarzt nicht einmal zugesteht, versprüht die Euro doch einen Hauch Anarchie. Man darf nach Herzenslust hupen und erntet von den auf freundlich getrimmten Exekutiv-Beamten höchstens ein Winken. Man findet sich zu spontanen Kundgebungen zusammen, worauf die Polizei so nett ist, gleich die Straße zu sperren und aus einer durchaus viel befahrenen Straße eine Fußgängerzone macht. Man sitzt im Schanigarten bis weit nach Mitternacht und wird nicht von nervösen Lokalbesitzern mit zunehmend gespielter Freundlichkeit ins Lokalinnere gebeten. Wann hat es so etwas schon gegeben.

Es geht schon betont lockerer zu, als dies in Österreich und vor allem in Wien normalerweise der Fall ist. Und das ist so schlecht nicht. Nein, jene entspanntere Sicht auf die Unwichtigkeiten des Stadtlebens kann durchaus zu einer Erhöhung der Lebensqualität beitragen. Man konnte bereits beobachten, dass die Polizei im Zweifel kleinere Gesetzesverstöße akzeptiert, um nicht das große Ziel, nämlich eine ruhige und sichere Europameisterschaft, zu gefährden. Die Fans sollen sich bloß nicht unnötig aufregen.

Ein bisschen erinnert die EM an Silvester. Auch an diesem Tag des Jahres legt die Polizei andere Maßstäbe an, wenn es etwa um Ruhestörung geht. Man darf mehr, als man normalerweise darf. Einmal im Jahr darf man auch nach Mitternacht laut sein, einmal im Jahr darf man sich ein wenig aufführen.

Nicht dass ich mich täglich nach Hupkonzerten sehne, so schön ist der Klang auch wieder nicht. Es geht gar nicht um die konkreten Auswirkungen der Feierstimmung österreichischer, türkischer, kroatischer und deutscher Fans. Ein dauerhafter Ausnahmezustand ist nicht zu er tragen.

Zu hoffen wäre es, dass die Polizei aber auch sehr positive Erfahrungen macht. In Deutschland, vor allem in Berlin, soll dies der Fall gewesen sein, worauf, so berichten zumindest Wahl-Berliner, die Beamte einen prinzipiell anderen Zugang zu ihrem Job gefunden hätten. Man werde auch nach der WM deutlich freundlicher auf Verfehlungen hingewiesen als bisher.

So könnte die Polizei auch den Obern in den Wiener Cafés als Vorbild dienen. Deren Verhalten bei der Euro wurde noch nicht eingehend untersucht, hier fehlen freilich auch die Erkenntnisse aus Berlin.