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Vorgezogener Urnengang nach Flugzeugkatastrophe. | Vorsprung von Favorit Komorowski gegenüber Kaczynski wird kleiner. | Warschau. Am Ende wurde es dann doch lauter. Es gab Jubelchöre und Beschimpfungen, Darbietungen von Kapellen und sogar eine Gerichtsverhandlung, nach der der eine Kandidat gezwungen war, sich beim anderen Kandidaten zu entschuldigen. Es wurde also dann doch noch ein normaler Wahlkampf. Aber eben nur am Ende. Denn sonst war es eine der seltsamsten Kampagnen, die Polen jemals erlebt hat.
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Wenn am Sonntag rund 30 Millionen Menschen dazu aufgerufen sind, aus zehn Männern den nächsten Staatspräsidenten zu wählen, wird sich der Großteil der Stimmen auf zwei Bewerber verteilen. Der eine hat das Amt bereits interimistisch übernommen, der andere will seinen Zwillingsbruder beerben, der zuvor Präsident war. Staatschef Lech Kaczynski war zusammen mit 95 weiteren Menschen bei einem Flugzeugabsturz umgekommen; sein Tod hat es notwendig gemacht, die ursprünglich für Herbst angesetzten Wahlen vorzuziehen.
Bronislaw Komorowski von der regierenden rechtsliberalen Bürgerplattform (PO) hat schon zuvor als Favorit für den Urnengang gegolten, und das tat er auch noch zwei Tage vor der Abstimmung. Als Sejmmarschall, Vorsitzender des polnischen Unterhauses, übt er derzeit das Amt des Präsidenten aus.
Der andere Hauptkandidat ist Jaroslaw Kaczynski, der gemeinsam mit seinem Bruder die konservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) aufgebaut hat. Diese hatte vor fünf Jahren die Parlamentswahlen gewonnen - und kurz darauf die Präsidentenwahlen. Als Premier und Präsident standen die Zwillinge eine Zeitlang an der Spitze des Staates.

Nach der Flugzeugkatastrophe vor mehr als zwei Monaten, die das Land in eine kollektive Trauer gestürzt hat, entschloss sich Jaroslaw Kaczynski zu kandidieren und das Werk seines Bruders fortzusetzen. So kündigte er es an.
Die Kampagne stand also zunächst im Schatten eines Toten, und die Kandidaten agierten verhalten, wie es kaum einer von ihnen erwartet hätte. Vor allem Kaczynski, der sonst in harschem Ton gegen den Sittenverfall oder vermeintliche Feinde des Landes wettern konnte, überraschte mit seiner Zurückhaltung. Er gab sich versöhnlich, und das nicht nur über ein paar Tage, sondern viele Wochen. In seinen Reden beschwor er die Solidarität, die zur Entwicklung Polens beitragen sollte.
Land unter Wasser
Komorowski wiederum musste wegen seiner Doppelfunktion als Übergangspräsident und Präsidentenkandidat vorsichtig auftreten. Das führte etwa dazu, dass sein Wahlkampfstab versicherte, die Reisen des Kandidaten werden keinesfalls aus dem Staatsbudget gezahlt - anders als die Reisen des Sejmmarschalls.
Und dann kam das Wasser. Der ruhige Wahlkampf kam fast zum Stillstand. Statt seine Botschaften auf mit Wahlkampfplakaten umstellten Plätzen anzubringen, fuhr Komorowski mit seinem Parteikollegen, Premier Donald Tusk, in die vom Hochwasser betroffenen Gebiete Polens und ließ sich von den Bewohnern über deren Lage berichten. Kaczynski rief im Parlament wieder einmal zur Solidarität auf - diesmal mit den Opfern der Überschwemmungen.
Erst in den letzten Tagen kam Schwung in die Kampagne. Die Kandidaten reisten zu Wahlkampfveranstaltungen in ganz Polen, warben für ihre Programme. Die stützten sich in erster Linie auf Aufrufe zur Einheit. Komorowski beschwor die Zusammenarbeit innerhalb der Gesellschaft, zwischen den Generationen und über politische Teilungen hinweg. Kaczynski plädierte dafür, gemeinsam daran zu arbeiten, die Kluft zwischen Polen und jenen Ländern zu schließen, die mehr historisches Glück hatten. Polen sei nicht zuletzt deswegen ärmer als westliche Staaten, weil es über Jahrhunderte Opfer von Besatzungsmächten und Aggressoren war.
Mit einer anderen Behauptung allerdings ist Kaczynski aus Sicht der PO zu weit gegangen. Der Ex-Premier hatte erklärt, Komorowski befürworte die Privatisierung der Krankenhäuser. Stimmt nicht, erwiderte die Bürgerplattform - und klagte. Sie bekam Recht; Kaczynski musste sich öffentlich entschuldigen. Die PO argumentierte damit, dass sie lediglich für die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens sei, für dessen Übergabe in die lokale Selbstverwaltung.
Der steigenden Sympathie für Kaczynski tat dies dennoch keinen Abbruch. Laut Umfragen hat er den Vorsprung Komorowskis stetig verringert. So ist es unwahrscheinlich, dass bereits am Sonntag einer der Kandidaten mehr als die Hälfte der Stimmen bekommt. Eine Stichwahl am 4. Juli steht wohl an. Vielleicht wird die Kampagne davor noch lauter.