Der Schweizer Philosoph Georg Kohler im Interview über Demokratie und Österreich.
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"Wiener Zeitung": Alle reden von der Krise der Demokratie, aber gab es je eine Epoche der Geschichte, die näher am demokratischen Ideal war als unsere Gegenwart?
Georg Kohler: Ich denke nein. Deshalb geht es mir auch darum, Demokratie als Prozess zu betrachten, der ständiger Anpassung bedarf. Die jetzige Kritik muss vor dem Hintergrund der Euphorie über die Ereignisse von 1989 betrachtet werden, als der Zusammenbruch des Kommunismus der liberalen Demokratie eine wunderbare Zukunft zu verheißen schien. Das heißt nicht, dass die jetzige Kritik am Zustand der Demokratie aus der Luft gegriffen wäre. Insgesamt aber stehe ich zu dem Urteil, dass es noch nie in der Geschichte so gut um sie bestellt war.
Befürchtet wird, dass sich die Demokratie als "Schönwetter-Veranstaltung" erweist, deren Institutionengefüge ins Wanken gerät, sobald sich die wirtschaftlichen, sozialen Rahmenbedingungen verdüstern. Dann erhalten extreme Parteien Zulauf, bröckelt der Konsens, häufen sich Ressentiments . . .
Die aktuelle Lage in einzelnen europäischen Staaten, etwa in Griechenland, ist durchaus als Belastungstest interpretierbar. Jede Herrschaftsform hängt von Zustimmung, von dem ab, was Max Weber Legitimitätsglaube nennt. Ohne geht es nicht. Das Besondere an der gegenwärtigen Situation ist, dass - obwohl zahlreiche Entwicklungen die Begeisterung der Massen für ihre Herrschenden erschüttern - nirgendwo eine Alternative zur Demokratie zu sehen ist. Die realsozialistische Variante ist im Eimer, und zwar endgültig und grundsätzlich; und auch die Möglichkeit eines autoritären Regimes ist kaum attraktiv. Deshalb halte ich auch die These des britischen Politologen Colin Crouch von der Post-Demokratie für falsch, wenn auch nicht für unnütz; wir müssen wachsam sein.
Was für Unmut sorgt, ist, dass die tatsächlichen Entscheidungen oft durch ein schwer zu durchblickendes Geflecht aus Politik, Wirtschaft, Medien getroffen werden. Darauf spielt auch der Vorwurf einer Fassaden-Demokratie an, wie ihn auch Jürgen Habermas als drohendes Szenario an die Wand malt.
Wir müssen zwei Dinge unterscheiden: Das eine ist das Ideal von Demokratie; das andere sind die Minimalbedingungen, die der US-Politologe Robert Alan Dahl mit dem Begriff der "polyarchen" Demokratie beschrieben hat, also der freie Wettbewerb um die politische Macht. Das Wichtigste ist die friedliche Ablöse der Herrschenden. Das geschieht ja auch, sogar bei so problematischen Figuren wie Silvio Berlusconi.
Wir können vielleicht die eine Partei durch eine andere ersetzen, an der grundsätzlichen Linie ändert sich aber in der Regel nur wenig. Der Spielraum ist - entweder tatsächlich oder nur eingebildet - auf ein Minimum reduziert. Viele Wähler haben das Gefühl, um die Chance einer Auswahl zwischen unterscheidbaren Politikalternativen beraubt worden zu sein.
Das mag zu Frustgefühlen führen, ob sie berechtigt sind, wage ich allerdings zu bezweifeln. Natürlich gibt es links und rechts als Extrempositionen, die eine als faschistische, die andere als marxistische Variante. Aber es gibt links und rechts natürlich auch in unseren rechtsstaatlich moderierten politischen Systemen. Und hier charakterisiert Norberto Bobbio die Linken als die Freunde der Gleichheit, die "so viel Gleichheit wie möglich, so viel Freiheit wie nötig" anstreben. Dem stehen die Rechten als Verteidiger der Freiheit mit der Maxime "so viel Freiheit wie möglich, so viel Gleichheit wie nötig" gegenüber. Heute reduziert sich diese notwendige Abwägung in der Frage, wie viel Sozialstaat wir wollen und uns auch leisten können. So gesehen ist das Gemeinsame zum Problem geworden. Ich finde das positiv. Ich teile auch nicht die Fundamentalkritik, dass die Medien nur noch die Menschen verblöden oder zu narzisstischen Hedonisten erziehen: Wer sich informieren will, kann sich ausreichend informieren.
Wann hat die Politik aufgehört, jeweils immer die Besten einer Generation anzuziehen?
Das ist wirklich ein wichtiges Thema. Eines aber vorweg: Politik ist eine tragische Angelegenheit! Hier wird Übermenschliches verlangt. Einerseits sollen Politiker gemeinwohlorientiert sein, andererseits müssen sie bestimmte Interessen bedienen, um überhaupt an die Macht zu gelangen; es gibt Situationen, die ohne moralisches Dilemma kaum aufzulösen sind; mit sauberen Händen ist das alles fast nicht zu machen, selbst wenn man, wie Max Weber, ein heroisches Verständnis vom Politikerberuf hat. Angesichts dieser Herkulesaufgabe finde ich, dass wir insgesamt in Westeuropa ganz gut aufgestellt sind, in Deutschland, in Frankreich . . .
Das sind allerdings europäische Großmächte, hier findet sich immer Spitzenpersonal. Probleme gibt es beim politischen Personal in den kleineren und mittleren Staaten, auch in Österreich wird immer wieder bemängelt, dass für die größten Talente die Politik längst keine ernsthafte Option mehr darstellt.
Ja, es gibt diesen Unterschied zwischen den großen und kleineren Staaten. Deshalb steigt auch mit der Kleinheit der Staaten die Bedeutung des politischen Systems für die Qualität der Entscheidungen. Und hier bietet sich ein Vergleich Österreichs mit der Schweiz durchaus an, wo die Volksrechte direkter Mitbestimmung eine zentrale Rolle spielen. In der Schweiz ermöglicht dies die unmittelbare Kontrolle der Herrschenden durch die Bürger. Hier haben, wenn ich nur die Dinge betrachte, die im jüngsten U-Ausschuss aufgedeckt wurden, Österreichs Strukturen ein Defizit. Was hier alles zum Vorschein gekommen ist, erachte ich für empörend. Aus meiner Sicht wären stärkere Volksrechte ein probates Gegenrezept.
Auch direkte Demokratie will allerdings gelernt sein. Der Anstoß zu fast jedem Referendum kam bisher nicht von den Bürgern, sondern von einer Partei. Womöglich unterscheidet sich die politische Mentalität der Österreicher doch stärker von jener der Schweizer.
Dieses Argument höre ich immer wieder. Natürlich beruht Demokratie auf der vorhandenen politischen Kultur, die historisch gewachsen und mit den bestehenden Institutionen verwachsen ist. Aber auch politische Kulturen verändern sich, können sich verändern. Die Leute werden nach und nach klüger, informierter . . .
Meine Zweifel beziehen sich weniger auf die Bürger als vielmehr auf die Parteien, die noch immer jedes zur Verfügung stehende Machtinstrument für ihre Zwecke zu nutzen versuchten.
Österreichs Politik droht manchmal Züge anzunehmen, die an Berlusconis Italien erinnern - und das ist unschön. Woher kommt das? Offensichtlich kochen die Mächtigen zu sehr im eigenen Saft. Was kann man dagegen tun? Aus meiner Sicht wäre eine stärkere Bürgerbeteiligung das große Konzept gegen diesen Missstand. Dass davon allein Rechtspopulisten profitieren würden, wird gerne als Gegenargument vorgebracht. Das ist durchaus möglich, ein gewisses Risiko ist immer dabei, wenn neue Dinge ausprobiert werden. Doch es wäre ein Fehler, das gilt auch für die Schweiz, wenn alle Themen, die von Rechtspopulisten kommen, aus der öffentlichen Debatte ausgeklammert werden. Ohne Grundvertrauen in die Entscheidungen der Bürger funktioniert Demokratie nicht.
Dieses Grundvertrauen in die Weisheit direktdemokratischer Entscheidungen ist in Österreich allerdings nicht überall vorhanden. Nicht zuletzt deshalb war der Parteienwettbewerb nach 1945 lange Zeit auf allgemeine Wahlen beschränkt, während die Eliten im Rahmen der Sozialpartnerschaft eng miteinander kooperierten.
Vielleicht wäre es ja an der Zeit, dass sich Österreich etwas Neues einfallen lässt, die Gründe für die Entwicklung liegen ja mittlerweile 80 Jahre zurück. Natürlich spielen Traditionen und die erlebte Geschichte eine große Rolle. Aber Österreichs Politik droht zu versumpfen, deshalb sollte man darüber nachdenken, die bestehenden Strukturen zu ändern, um aus dieser Sackgasse wieder herauszukommen. Die handelnden Personen sehe ich dabei nicht als zentrales Problem, die ändern sich mit den Strukturen. Hier, glaube ich, bieten die direktdemokratische Ideen der Schweiz einen Ausweg, obschon natürlich die Schweizer selbst in einer Sackgasse feststecken, aber das betrifft bei uns das Verhältnis zu Europa. Österreich braucht eine Alternative zur ewigen rot-schwarzen Koalition. Das ist nur schwer möglich, solange die Freiheitlichen mit fremdenfeindlichen Parolen werben und die Grünen als Mehrheitsbeschaffer zu schwach sind. In dieser Situation ist der Ausbau der direkten Demokratie ein probates Mittel. Wenn man da einfach sagt, das gehe nicht, dann verstärkt man einen Trend, der wirklich post-demokratische Charakterzüge aufweist.
Lohnt die Mühe überhaupt noch, die Defizite der nationalstaatlichen Demokratie zu beheben, wenn gleichzeitig Intellektuelle und Medien die möglichst rasche Umsetzung der europäischen Demokratie fordern?
Dazu zwei Feststellungen: Ja, der europäische Nationalstaat ist für die Lösung vieler Probleme zu klein geworden; gleichzeitig ist er bis dato das einzige politische Biotop, in dem Demokratie bisher funktioniert hat. Es gibt also einen zivilisatorischen Zwang zu einer Transnationalisierung, wenn es um die Lösung solcher Probleme geht, auch wenn der Nationalstaat noch für lange Zeit den demokratischen Grundpfeiler darstellen wird. Wie das konkret gehen kann, gilt es jetzt auszuprobieren.
Zur Person
Georg Kohler, geboren 1945, ist emeritierter Professor für politische Philosophie der Universität Zürich.