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In Russland leben derzeit 60 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Dies seien 40 Prozent der Bevölkerung, schrieb die Zeitung "Segodnia" unter Berufung auf die Moskauer Akademie der Wissenschaften. Die Zahlen des Instituts sind deutlich höher als die Erhebungen des staatlichen Statistikamtes aus 1998. Laut der Behörde lebten im vergangenen Jahr 42 Millionen Menschen in Russland in großer Armut.
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Das Durchschnittseinkommen in Russland beträgt laut der Akademie der Wissenschaften umgerechnet knapp 800 Schilling monatlich. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 14 Prozent.
Dick vermummt gegen die Kälte arrangiert Julia Smagina einen Stapel billig imitierter Designer-Jeans auf ihrem Marktstand. An einem guten Tag nimmt sie 300 Rubel (150 Schilling) ein. Ihre Heimatstadt Noginsk, 50 km östlich von Moskau, war einst ein Vorzeigeobjekt der sowjetischen Textilindustrie. Alle 123.000 Einwohner hatten Arbeit. Neun Jahre nach dem Ende der Sowjetunion müssen sich heute auch hier viele Menschen mit Fantasie und Geschick durch einen bitterarmen Alltag durchschlagen.
Smagina ist ausgebildete Buchhalterin. Politik spielt in ihrem Existenzkampf keine Rolle, zur Präsidentenwahl am Sonntag will sie nicht gehen. Zwar hat der amtierende Präsident Wladimir Putin versprochen, der Rettung der sterbenden russischen Industrie und der Sanierung der Wirtschaft höchste Priorität einzuräumen. "Nichts wird besser", sagt sie aber desillusioniert. "Ich werde nicht mal wählen gehen. Sie werden Putin wählen. Und der macht dieselbe Politik wie (sein Vorgänger Boris) Jelzin."
Noginsk ist eine typische russische Industriestadt, die im Niemandsland zwischen sowjetischer Plan- und mangelhafter Einführung der Marktwirtschaft gestrandet ist. Die Fabriken arbeiten mit uralten Maschinen und geringen Investitionen. Die Behörden müssen es hinnehmen, dass die Unternehmen ihre Steuern verspätet zahlen. Die Beschäftigten warten Wochen, manchmal sogar Monate auf ihren Lohn. Hauptsache, die Leute haben überhaupt noch Arbeit. "Wenn die Industrie funktioniert, ist genug für alle da", sagt der Leiter der Kommunalverwaltung, Wladimir Laptew. Reformer bezeichnen das Netz informeller Duldungen und Subventionen als schlechte Fortsetzung des sowjetischen Plansystems. Der Internationale Währungsfonds (IWF) fordert für seine Milliardenkredite an Russland klare Schritte in Richtung Marktwirtschaft. Aber das Beharrungsvermögen des alten Systems und Denkens ist stark ausgeprägt in Noginsk und Hunderten ähnlicher Städte in Russland.
Lew Subbotin ist Direktor der Kleiderfabrik Aschur, die 570 Menschen beschäftigt. Der Vorschlag des ausländischen Expertenrats, bankrotte Firmen zu schließen, ist für ihn unannehmbar: "Wir könnten Leute entlassen", sagt er mit Blick auf die Frauen an den Nähmaschinen. "Aber sie müssen doch essen."
Dennoch werden überall stetig Arbeitsplätze gestrichen. Die 1842 gegründete Textilfabrik Gluchowski hat von ihren einst 14.000 nur mehr 4.000 Mitarbeiter. Nach offiziellen Angaben sind in Russland zwölf Prozent arbeitslos. Der Wirklichkeit entspricht das bei weitem nicht. Die Armut hat selbst Städter zu Kleingärtnern gemacht, die Obst und Gemüse auf den Märkten für ein paar Rubel anbieten. Die Gärten gehören zu Wohnungen, die der Staat mit massiven Subventionen stützt: 150 Rubel kostet im Durchschnitt die Miete.
Da lohnt sich auch das Sammeln von Leergut. Einen Rubel bekommt die Pensionistin Vera Petrowa für eine Pfandflasche. "Darauf sind wir seit drei Jahren angewiesen", sagt sie, während sie in einer Schlange von Flaschensammlern steht. "Wenn du Köpfchen hast und anpackst, kannst du überleben."
Putin hat bisher eher widersprüchliche Angaben über sein Wirtschaftsprogramm gemacht. Einerseits will er marktwirtschaftliche Reformen, andererseits die staatlichen Kontrollen verschärfen.