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Ein Held mit Schwächen

Von Hermann Schlösser

Reflexionen

Willy Brandt, der vierte deutsche Bundeskanzler, wurde vor hundert Jahren geboren. Er hat seinen Landsleuten mehr Anteilnahme abverlangt als alle seine Vorgänger und Nachfolger. Warum eigentlich? Eine Recherche.


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In den ersten Jahrzehnten ihres Bestehens wurde die Bundesrepublik Deutschland von CDU-Kanzlern regiert: Von 1949 bis 1963 bestimmte der 1876 geborene Urgreis Konrad Adenauer die Richtlinien der Politik. Sein Nachfolger wurde Ludwig Erhard, ein wohlgenährter Ökonomieprofessor. Er hatte unter Adenauer als Minister gedient und war der Architekt jener Sozialen Marktwirtschaft, die zum "Wirtschaftswunder" im Westteil des kriegsversehrten Deutschland entscheidend beigetragen hat.

Vielen Deutschen erschien diese christdemokratische Dominanz geradezu als gottgegeben, doch kursierten auch witzige Spottverse wie etwa dieser: "Wenn morgens früh die Sonne lacht / dann hat‘s die CDU gemacht."

In den frühen sechziger Jahren kündigte sich jedoch eine Verschiebung der Machtverhältnisse an. Die SPD, die sich in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch als Arbeiterpartei verstanden hatte, öffnete sich 1959 im "Godesberger Programm" anderen Bevölkerungsschichten. Vor allem gelang es ihr, schichtenübergreifend die Jüngeren anzusprechen, denen der patriarchalische Stil der CDU allzu altbacken erschien.

Das Gesicht der SPD

Diese Umgestaltung einer traditionsverhafteten Arbeiterpartei war einer Reihe von Politikern zu verdanken: unter anderem Fritz Erler, Carlo Schmid und Herbert Wehner. Einer jedoch verlieh dem neuen Geist das zeitgemäß attraktive Gesicht, und das war Willy Brandt, geboren 1913, damals also noch ein Politiker der jüngeren Generation. Er wurde 1964 zum Vorsitzenden der SPD gewählt und blieb in dieser Funktion bis ins Jahr 1987.

Dieser Willy Brandt war nun durchaus kein Politiker ohne Fehl und Tadel. Er galt zeitlebens als launenhaft, neigte einerseits zu melancholischen Rückzügen, andererseits zu riskanten, schwer berechenbaren Einzelaktionen. (Psychologen nennen dieses Verhaltensmuster "manisch-depressiv"). Er war ein Suchttyp, phasenweise dem Alkohol stark zugeneigt, was ihm bei seinen Mitarbeitern den Spitznamen "Willy Weinbrand" einbrachte. Auch war er Kettenraucher, und über erotische Eskapaden des gut aussehenden Herrn wurde ebenfalls manches gemunkelt. Vor allem 1974, als Brandt wegen eines DDR-Spions in seiner Nähe als Kanzler zurücktrat, wurde kolportiert, dieser Spion hätte ihm auch "Damen zugeführt". Trotzdem gelang es Brandt, den privaten Bereich vor der neugierigen Öffentlichkeit weitgehend geheimzuhalten. Nur seine langjährige Ehefrau Rut war der Öffentlichkeit als kluge und sympathische Partnerin bekannt. 1983 ließ er sich von ihr scheiden und heiratete die Historikerin Brigitte Seebacher-Brandt. Diesen Schritt haben ihm auch viele seiner Verehrer und Verehrerinnen nicht verziehen.

Dennoch: Brandt wurde (und wird) von vielen Deutschen bewundert und geliebt wie kaum ein anderer Politiker der jüngsten Geschichte. Er verkörperte nämlich die Hoffnung auf ein "anderes", also "besseres" Deutschland, in dem die hässlichen Relikte des Nationalsozialismus endgültig überwunden wären. Diesen moralischen Kredit hat Brandt bis heute nicht verloren. Ob als Bürgermeister von Berlin, als deutscher Außenminister oder als Bundeskanzler, ob als elder statesman in diversen Funktionen oder als Vorsitzender der SPD - immer galt Brandt als integrer und glaubwürdiger Politiker. Daran änderten auch seine unbestreitbar vorhandenen Fehler und Mängel nichts.

Der junge Brandt wurde oft mit dem vier Jahre jüngeren amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy verglichen, und es ist bekannt, dass er in den frühen 60er Jahren einige Anstrengungen unternahm, um dieses Image des "deutschen Kennedy" im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Dafür bot ihm seine Arbeit als "Regierender Bürgermeister" West-Berlins mehrere Gelegenheiten. Brandt hatte dieses heikle, aber auch prestigeträchtige Amt zwischen 1957 und 1966 inne. Er war es also, der 1961 auf den Bau der Berliner Mauer politisch reagieren musste, und er stellte in dieser krisenhaften Situation zwei seiner besten politischen Fähigkeiten unter Beweis: zum einen bewies er Mut, indem er eine Demonstration der Westberliner gegen die DDR anführte. Zugleich aber zeigte er kluge Umsicht, indem er dafür sorgte, dass die Demonstration nicht in offene Aggression ausartete. Spätestens da stand fest, dass Brandt für höhere Aufgaben infrage käme.

Auf dem Weg an die Spitze musste Brandt allerdings zwei bittere Niederlagen einstecken: In den Wahlkämpfen von 1961 und 1965 trat er als Spitzenkandidat der SPD gegen Adenauer und Erhard an und wurde beide Male vernichtend geschlagen. Das war nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die CDU einen verunglimfpenden Wahlkampf gegen Brandt geführt hat. Sie machte dabei Gebrauch von biographischen Fakten, die damals genügten, um einen Politiker nachhaltig zu beschädigen.

"Brandt alias Frahm"

Worum ging es also? Vor allem darum, dass Willy Brandt am 18. Dezember 1913 als uneheliches Kind der neunzehnjährigen Konsum-Verkäuferin Martha Frahm in Lübeck geboren wurde und vaterlos unter der Obhut eines sozialdemokratischen Großvaters im Arbeitermilieu der Hansestadt aufgewachsen ist. Damals hieß er noch Herbert Frahm. Als Hochbegabter besuchte er das Gymnasium bis zum Abitur und war in seinen Teenager-Jahren schon ein engagierter Sozialist, der allerdings 1931 aus der SPD aus- und in die revolutionäre Splittergruppe SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) eintrat.

1933 verließ der Zwanzigjährige Nazi-Deutschland, emigrierte zunächst nach Norwegen, dann nach Schweden und entwickelte sich im Exil zu dem linken Berufspolitiker, der er zeitlebens geblieben ist. Aus dem Exil stammt auch der Deckname Willy Brandt, der Adenauer später zu der boshaften Anrede "Brandt alias Frahm" inspirierte. 1948 kehrte Brandt nach Deutschland und in die SPD zurück und beteiligte sich am Wiederaufbau der Bundesrepublik.

Die Tatsache, dass Brandt die Zeit des Nationalsozialismus im Exil verbrachte, wurde ihm ebenso empört vorgeworfen wie seine nicht standesgemäße Geburt. Heute, da der 1992 gestorbene Brandt als historische Figur unumstritten ist, klingt es unglaublich, aber in den sechziger Jahren galt er vielen konservativen Deutschen noch nicht als Staatsmann, sondern als Staatsfeind. Einer seiner Söhne, der Schauspieler Matthias Brandt, erinnerte unlängst in einem Interview daran, dass die Parole "Brandt an die Wand" seinerzeit häufig an Hauswänden und Bauzäunen zu lesen war.

Das Schwergewicht

All dieser Widerstände ungeachtet, verfolge Brandt seine politische Karriere: 1966 trat er als Vizekanzler und Außenminister in die erste Große Koalition der Bundesrepublik ein, die der CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger führte. Nach der Wahl 1969 wurde Brandt Kanzler, und zwar durch einen politischen Kraftakt, den er ziemlich alleine gegen seine eigene Partei durchsetzte. Er schloss mit der FDP eine Kleine Koalition, die trotz ihrer sehr knappen Mehrheit mit dem Pathos eines "Machtwechsels" auftrat. Brandt, der zeitlebens ein großes Talent für markante Formulierungen besaß, fasste den Geist der Zeit damals in den Satz: "Wir wollen mehr Demokratie wagen!" Auch dafür wurde er von seinen Verehrern geliebt - genauso wie für die Formel "Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört", mit der er sehr viel später die Wiedervereinigung Deutschlands auf den Begriff brachte.

Die wichtigste politische Leistung des Bundeskanzlers Brandt war gewiss die "Ostpolitik", für die er 1971 den Friedensnobelpreis bekam. Über die Ursachen und Folgen dieses damals neuen Versuchs, die erstarrten Machtblöcke des Kalten Krieges zu "entspannen", streiten die Historiker bis heute.

Hier, wo es um Brandt selbst geht, sei nur daran erinnert, dass der deutsche Bundeskanzler damals die historisch schwer belasteten Beziehungen zu Polen mit einer einzigen großen Geste "entspannte", die sein politisches Verständnis ebenso eindrucksvoll illustriert wie sein Takt- und Stilgefühl: Während eines Besuchs in Polen 1970 legte Brandt einen Kranz im einstigen Warschauer Ghetto nieder. Er schloss diesen ritualisierten Staatsakt durch einen Kniefall ab, der von keinem Protokoll vorgesehen war. Damit hatte er, der Emigrant, sichtbar die deutsche Verantwortung für Krieg und Völkermord übernommen. Wer das damals vor dem Fernseher miterlebt hat, wird es nicht mehr vergessen.

Hermann Schlösser, geboren 1953 in Worms, ist Redakteur des "extra" und Literaturwissenschafter.