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Ein Herz für die Urne

Von WZ-Korrespondentin Simone Brunner

Politik

In Russland finden am Sonntag auf lokaler Ebene knapp 6000 Wahlgänge statt.


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Moskau. "Die Liebe folgt dir überall hin, sogar zu den Wahlen", ist in den türkis gefärbten Horizont geschrieben. Ein Mann tippt in sein Smartphone, während im Hintergrund eine Frau mit wehenden Haaren in den Himmel blickt. Es ist der Auftakt zu einer Foto-Love-Story, mit einem ungewöhnlichen Happy End: Am Ende werden Mann und Frau feierlich zur Wahlurne schreiten.

Der Anbieter Mamba, eine Art russisches Pendant zum Online-Dating-Dienst Tinder, hat eine neue Applikation entwickelt: Über das Programm "Gemeinsam wählen" können sich die Russen zu einem Stelldichein verabreden - und gleich gemeinsam vor die Wahlurne treten. Am Sonntag werden in 16 russischen Regionen Gouverneure gewählt. Zudem finden in Moskau Kommunalwahlen statt. Russlandweit gibt es am "Einheitstag der Wahlen" knapp 6000 Wahlgänge, rund 46 Millionen Russen, etwa die Hälfte aller Wahlberechtigten, sind zum Urnengang berechtigt.

Ob die App tatsächlich aus dem Kreml in Auftrag gegeben wurde, wie zuletzt der unabhängige Fernsehsender "Doschd" unter Berufung auf anonyme Quellen berichtet hatte, bleibt unklar. Im März 2018 finden in Russland jedenfalls Präsidentschaftswahlen statt. Wladimir Putin hat seine Kandidatur offiziell noch nicht bekanntgegeben, aber dass er erneut antritt, gilt als sicher.

Im Kreml wird bereits getüftelt

Derweil soll im Kreml an Strategien getüftelt werden, um die Wahlbeteiligung auf zumindest 70 Prozent anzukurbeln, wie die russische Zeitung "RBK" zuletzt berichtet hat. Bei den Parlamentswahlen im Herbst 2016 hatten nur knapp 48 Prozent der Russen ihre Stimme abgegeben - so wenige wie noch nie seit dem Zerfall der Sowjetunion.

Eine niedrige Wahlbeteiligung stellt den Kreml vor ein Dilemma, da sie die den absoluten Machtanspruch des Kreml in Frage stellt. Andererseits erhöht eine hohe Wahlbeteiligung wiederum die Unvorhersehbarkeit. Wohl ein Grund, warum die zentrale Wahlkommission zuletzt angekündigt hatte, den Oppositionellen Alexej Nawalny nicht zu den Präsidentschaftswahlen zuzulassen.

Dadurch verliert der Wahlkampf allerdings an Attraktivität. Politiker wie Andrej Klytschkow von den Kommunisten gehen derweil davon aus, dass am Sonntag gerade eine niedrige Wahlbeteiligung im Sinne der Machtpartei "Einiges Russland" sei, denn "wenn die Unzufriedenen zu den Wahlen gehen, dann wird es weniger Mandate für die Partei Einiges Russland geben", so Klytschkow. Von einer "stillen Woche" schreibt indes die Oppositionszeitung "Nowaja Gaseta". Wie sehr das Herz der Machthaber am Sonntag also tatsächlich für eine hohe Wahlbeteiligung schlägt, bleibt daher dahingestellt.

Doch gerade bei den Moskauer Kommunalwahlen - die üblicherweise auf kein allzu Interesse stoßen und lediglich dazu dienen, die Lokalpolitiker im Amt zu bestätigen - ist diesmal frischer Wind in den Wahlkampf gekommen: Vor allem die Hauptstadt Moskau wurde zuletzt von einer regelrechten Protestwelle erfasst. Zehntausende Moskauer hatten im Frühling gegen das Abrissprogramm von Bürgermeister Sergej Sobjanin protestiert - und sich politisiert: Für die Wahlen am Sonntag haben sich in Moskau viele unabhängige Kandidaten aufstellen lassen.

Oppositionelle, wie der ehemalige Duma-Abgeordnete Dmitrij Gudkow und die Stiftung des Oligarchen Michail Chodorkowsij, haben ein Kursprogramm gestartet, um angehende Politiker zu trainieren - beim Verteilen von Flugblättern über das Unterschriftensammeln bis hin zum Haustürwahlkampf. Allein in Moskau werden 1500 Kommunalvertreter gewählt. Wenngleich ihre Kompetenzen gering sind, kommen ihnen vor allem vor den Moskauer Bürgermeisterwahlen, die in einem Jahr stattfinden, eine Schlüsselrolle zu: So muss jeder Kandidat, der zu den Wahlen antreten will, mindestens 110 Unterschriften dieser Kommunalpolitiker sammeln.

Opposition wird ausgebremst

In 16 Regionen werden zudem am Sonntag die Gouverneure gewählt, wie etwa in der russischen Enklave Kaliningrad oder der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim. Seit 2012 werden die Gouverneure wieder direkt von den Bürgern gewählt. Zuletzt haben unabhängige Kandidaten allerdings über eine restriktive Zulassungspolitik, über den sogenannten "munizipalen Filter", geklagt: Demnach müssen alle Kandidaten Unterschriften der Abgeordneten sammeln, um überhaupt zur Wahl antreten zu können - ein probates Mittel, um unliebsame Kandidaten aus formalen Gründen erst gar nicht zu den Wahlen zuzulassen, so die Kritik.

Vorwürfe, die zuletzt selbst vom Komitee der Bürgerbewegungen, einer Organisation des Ex-Finanzministers und Putin-Beraters Alexej Kudrin, untermauert wurden: "Viele potenzielle Kandidaten, die erfahrene Wahlkämpfer sind und einen hohen Bekanntheitsgrad haben, sind vom Wahlprozess ausgeschlossen", schreiben die Autoren einer aktuellen Studie. Wie Wjatscheslaw Marchajew, ein populärer Politiker der Kommunisten in der sibirischen Republik Burjatien, oder Jewgenij Roisman, bisher Bürgermeister von Jekaterinburg, der viertgrößten Stadt des Landes. "Die Gouverneurswahlen haben sich in eine Farce, in eine Clown-Show verwandelt", kritisierte der Permer Oppositionspolitiker Konstantin Okunew gegenüber dem Sender "Radio Swoboda".