Vor 60 Jahren, am 1. August 1962, präsentierte Otfried Preußler seinen bis heute millionenfach verkauften "Räuber Hotzenplotz".
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Ja. Ich hab’s gelesen. Sieben oder acht war ich damals. Es war zwar kein "Winnetou", aber ich war trotzdem begeistert. Der unrasierte Held des Buches besitzt sieben scharfe Messer und eine Pfefferpistole. Er wäscht sich so gut wie nie, stiehlt seiner Oma die singende Kaffeemühle und bringt den gründlich verblödeten Wachtmeister Dimpfelmoser immer wieder zur Verzweiflung. Vor dem Hintergrund des Kasperltheaters tritt der rohe, rülpsende, fluchende und brüllende Räuber und Entführer als Gegenspieler der vergleichsweise einfach gestrickten Helden Kasperl und Seppel auf, bis er am Ende geläutert - und ein Guter wird.
Mit einer weltweiten Gesamtauflage von mehr als 50 Millionen Exemplaren zählt "Der Räuber Hotzenplotz" heute immer noch zu den erfolgreichsten Kinderbüchern überhaupt. Der Titelheld hat das Herz eines spießigen Beamten. Er "nahm es mit seinem Beruf sehr genau. Im Sommer stand er wochentags immer pünktlich um sechs Uhr auf. Spätestens um halb acht verließ er seine Räuberhöhle und legte sich auf die Lauer." Auch nach seinem Ausbruch aus dem Gefängnis "machte er sich wieder auf den Weg zu seiner Arbeit. ‚14 Tage ...‘, schimpfte er vor sich hin. ‚14 Tage ohne Einnahmen! Wenn das so weitergeht, muss ich mir einen anderen Beruf suchen!‘"
Preußlers Werk umfasst 32 Kinderbücher - die enthusiastische Hitlerjugend-Schmonzette "Erntelager Geyer" (1943) nicht mitgerechnet. Der Vater dreier Töchter, der auch als Volksschullehrer in Oberbayern arbeitete, kümmerte sich nie um Feuilleton und Literaturkritik. "Ich habe einen Lektor", sagte Preußler, "das ist der kleine Junge, der ich einmal war."
Politisch nicht korrekt
Bevor er ein Buch auf den Markt brachte, präsentierte er die Geschichte in kleinem Rahmen einem jungen Publikum. "Kinder sind die besten und klügsten Kritiker, die man sich als Geschichtenerzähler nur wünschen kann. Streng und unbestechlich", sagte er in einem Interview.
Unterm Strich hat "Der Räuber Hotzenplotz" auch nach sechs Jahrzehnten nichts von seiner Faszination eingebüßt, obwohl der Start des Buches nicht ohne Friktionen erfolgte. "Preußler hat die Geschichte als Kasperle-Märchen geschrieben, mitten in die antiautoritäre Erziehungsbewegung hinein", notiert Monika Osberghaus, Chefin vom Leipziger Klett Kinderbuchverlag, in der "FAZ". "Die Dimpfelmosers unter den Kinderbuchvermittlern" gingen sofort auf diesen reaktionären Kerl los, der sich erlaubte, die Hauptfigur eines Buches zu sein, das weder politisch korrekt noch realistisch war, sondern "ein Märchen mit dem guten alten Kasperltheater-Personal, das die Kinder mit wackelnden, grob geschnitzten Holzköpfen ängstigt und zum Lachen bringt".
Heute wird weitaus radikaler als damals eine leidenschaftliche Debatte darüber geführt, ob Kinderbücher politisch korrekt und in Schrift und Bild an heutige Normen angepasst sein müssen. Vorauseilend erscheint "Der Räuber Hotzenplotz" schon seit Jahren ohne das umstrittene "N-Wort". Der Stuttgarter Verlag Thienemann-Esslinger folgt dabei dem Beispiel des Verlags Oetinger aus Hamburg, der bereits 2009 Worte wie "Neger" und "Zigeuner" aus Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" gestrichen hat.
"Ich bin gegen jede Art von Zensur", zeigt sich ein User aus dem Forum von "Büchertreff" angriffslustig. "Statt Wörter, die früher eine andere Bedeutung hatten oder heute gar nicht mehr verwendet werden, umzuschreiben oder sie auszurotten, müssten den Kindern Wörter, die sie nicht verstehen bzw. ihnen fremd vorkommen, erklärt werden."
Tatsächlich ist Zensur in den USA und in Europa heute in der Verlagsbranche und auch bei universitären Publikationen an der Tagesordnung, weil man da wie dort moralisch einwandfreie Bücher in den Bibliotheken stehen haben will. Auf dem Schweizer Online-Portal familienleben.ch befürchtet die Journalistin Sigrid Schulze, dass die Aufgabe, Kinderbuch-Klassiker frei von "Diskriminierung" zu machen, eine schier endlose Säuberungsaktion würde: "Denn ist es nicht auch diskriminierend, Frauen in erster Linie als Mütter und Hausfrauen darzustellen? Wenn dem so wäre, müsste ein Großteil aller Kinderbücher aus den Regalen entfernt werden."
Humorvoll argumentiert Anette Wolf in ihrem Blog "Katze mit Buch": "Stellen wir uns den ‚Hotzenplotz‘ angepasst an den Zeitgeist vor: Da die Großmutter die Vorlieben ihrer Jungs kennt, hat sie sicher an Kasperls Laktose-Intoleranz gedacht, und daran, dass Seppel spät am Nachmittag kein Koffein mehr verträgt. Umweltbewusst wie sie ist, verzichtet sie natürlich auf Kapsel- oder Padmaschinen, nur, dass der Kaffee heutzutage nicht mit einer Handmühle, sondern vom Kaffeevollautomaten gemahlen wird. Sollte der zicken und bei der Servicestelle des Herstellers zur Wartung sein, war es das natürlich mit dem gemütlichen Kaffeeklatsch, und die Atmosphäre der ganzen Geschichte ist im Eimer . . . Mal davon abgesehen, dass es sich für den Räuber Hotzenplotz sicher einfacher bewerkstelligen lässt, eine Kaffeemühle mitgehen zu lassen als einen Kaffeevollautomaten."
Longtime-Bestseller
Dem Zielpublikum sind solche Überlegungen herzlich egal. Kindern ist es eher wichtig, das Lesen als Abenteuer im Kopf zu begreifen und mit einem Buch in spannende Welten zu reisen, dort mit ihren Lieblingsgestalten mitzufiebern und sich selbst als Teil der Literatur wiederzufinden.
Es ist interessant, dass in der Liste der beliebtesten Kinderbücher aller Zeiten viele Titel zu finden sind, die schon vor Jahrzehnten herauskamen und mit der heutigen Realität rein gar nichts zu tun haben: "Winnetou" von Karl May (1878), "Heidi" von Johanna Spyri (1880) oder auch "Alice im Wunderland" von Lewis Carroll (1865) stammen sogar aus dem 19. Jahrhundert. "Peter Pan" von James M. Barrie erschien 1902, "Hatschi Bratschis Luftballon" von Franz Karl Ginzkey 1904, "Der kleine Prinz" von Antoine de Saint-Exupéry 1943, "Pippi Langstrumpf" von Astrid Lindgren 1945, "Das kleine Gespenst" von Otfried Preußler 1966, "Die kleine Raupe Nimmersatt" von Eric Carle 1969 etc.
Dass diese Bücher Longtime-Bestseller sind, ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass Kinder keine Kinderbücher kaufen, sondern oft von Großeltern beschenkt werden, die sich ihrerseits noch an Bücher aus der eigenen Kindheit erinnern. Auch wenn die Kommunikationswissenschafterin Benita Wintermantel im April 2022 im Online-Magazin familie.de begeistert schreibt, dass die aktuellen Kinderbücher "für unseren Nachwuchs jede Menge spannende Geschichten" bereithalten, wird man schnell skeptisch. Denn in den Verlagsprogrammen finden sich vermehrt Kinderbücher zur Flüchtlingskrise, über Brustkrebs, rund um das Thema "Tod und Trauer", über Corona, Klima- und Umweltschutz sowie zu den Themen "Rassismus", "Sexualität" und "Diversität".
"Kinderbücher, die Diversität abbilden, gibt es inzwischen immer mehr", erklärt die deutsche Bloggerin und Podcasterin Andrea Zschocher. "Es lohnt sich aber, genau hinzuschauen. Denn nicht alles, was nach Vielfalt aussieht, ist es dann auch." Als positives Beispiel wird "Julian ist eine Meerjungfrau" von Jessica Love (für Kinder ab 4 Jahren) angeführt, das, kurz gesagt, folgenden Inhalt hat: "Julian möchte so sein wie andere Meerjungfrauen. Die hat er in der U-Bahn mit seiner Oma entdeckt, und nun zieht er sich zu Hause auch so an wie sie. Als Oma ihn entdeckt, macht er sich große Sorgen. Aber sie reagiert, wie alle Menschen reagieren sollten, und spaziert mit ihrem stolzen kleinen Jungen in seinem Outfit die Straße entlang, dorthin, wo es andere Meerjungfrauen gibt ..."
Zschocher findet das gut, denn: "Dieses Buch braucht nicht viele Worte. Die Zeichnungen sprechen für sich und geben Eltern die Chance, die Geschichte selbst zu erzählen. Am Ende geht es ja nur darum: Jungs, die Kleider tragen, sind total okay, und Akzeptanz ist der Schlüssel."
Vital und wirklich wild
Solche Kinderbücher sind aber oft nicht wirklich attraktiv für lesende Kinder, wie Zschocher selber weiß: "Leider verfahren hier viele Verlage mit der Holzhammermethode. Da gibt es in den Büchern Kinder, die mit verschiedenen kulturellen Hintergründen aufwachsen und die in ihrer Unterschiedlichkeit total überzeichnet werden. Das ist nicht nur langweilig, es ist auch ärgerlich, weil es die Lebenswelt nicht realistisch wiedergibt."
Die Kinderbuchverlegerin Monika Osberghaus hat ihre eigene Theorie, warum die Themen der Kinderbücher mittlerweile so kompliziert und sachlich geworden sind: "Viele Erwachsene haben ein schlechtes Gewissen, weil wir die Welt so gestaltet haben, wie sie jetzt ist. Und sie erwarten von Kinderbüchern, das zu heilen und ihnen bei der Erziehung zu helfen."
Die Kärntner Verlagsleiterin Erika Hornbogner (Drava Verlag) sieht in einem Interview mit dem österreichischen Wirtschaftsmagazin "Sheconomy" aus ganz anderen Gründen düstere Zeiten auf den heimischen Buchmarkt zukommen: "35 Prozent der Jugendlichen halten das Lesen für reine Zeitverschwendung. Die Lesekompetenz der Schülerinnen und Schüler hat sich in den letzten Jahren sehr verschlechtert, wobei die Mädchen im Schnitt immerhin noch besser lesen können als die Buben und auch eher zu einem Buch greifen."
Auch deshalb sei eine Figur wie der Hotzenplotz heute wichtiger denn je, glaubt Osberghaus: "Kinder brauchen solche starken burlesken Gestalten, die im Gegensatz zu vielem, was sich neuerdings wild nennt, wirklich wild sind: vital, dreist, überraschend, verunsichernd. Und dumm. Holzköpfe eben, vor denen man kreischend abhauen kann, um sie im nächsten Moment zu überlisten."
Die Kindheit ist halt auch nimmer das, was sie einmal war.
Georg Biron, geboren 1958, lebt als Schriftsteller, Reporter, Regisseur und Schauspieler in Wien.