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Ein Horst für Adlers Schüler

Von Heiner Boberski

Wissen
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Das Portal des neuen Alfred-Adler-Zentrums in der Hernalser Hauptstraße 15 in Wien.
© ÖVIP

Zur Individualpsychologie gehört seit ihrer Gründung auch soziales Engagement.


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Wien. Die Erinnerung an Sigmund Freud ist stark mit einer Adresse verbunden: Berggasse 19 in Wien-Alsergrund, wo der Begründer der Psychoanalyse lebte und praktizierte. Nun wird auch die von Alfred Adler begründete Individualpsychologie, als Zweite Wiener Schule der Tiefenpsychologie in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen, örtlich besser fassbar. Der bisher über keine Lokalität verfügende Weltverband International Association of Individual Psychology (IAIP) und der Österreichische Verein für Individualpsychologie (ÖVIP) haben jetzt ihren Sitz in der Hernalser Hauptstraße 15, wo am 11. Mai das neue "Alfred Adler Center International" (AACI) eröffnet wird. Im Bezirk Hernals hat Adler den Großteil seiner Jugend verbracht. Den Rahmen bildet das Symposium "Alfred Adler und das soziale Engagement der Individualpsychologie" an der Universität Wien. Dort hat der derzeitige IAIP-Präsident Wilfried Datler eine Professur für Bildungswissenschaft inne.

Die Entscheidung für Wien als Sitz des Weltverbandes fiel 2011 auf einem Kongress zum 100-jährigen Bestehen der Individualpsychologie in Wien. Damals wurde auch die jahrzehntelang verschollene, in Schottland wieder aufgefundene Urne Adlers feierlich auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet. Laut ÖVIP-Präsidentin Margot Matschiner-Zollner gibt es über Adlers Leben nicht mehr viel zu erforschen. Immerhin: Vor drei Wochen bekam der Verein von Adlers Enkelin ein Adressenverzeichnis der Personen, mit denen Adler korrespondiert hat - auch Albert Einstein war darunter.

Der ÖVIP umfasst rund 350 Mitglieder, der IAIP gehören Psychologen aus 26 Ländern an. Zum Symposium werden 150 bis 200 Teilnehmer erwartet. Laut Matschiner-Zollner gibt es "immer wieder psychotherapeutische Moden", der 1970 gegründete ÖVIP, der die Ausbildung von Individualpsychologen betreut, sei trotz großer Konkurrenz "im Wachsen". Gab es damals nur fünf Vereine, so seien es derzeit 37 Richtungen, die psychotherapeutische Ausbildungen anbieten. "Wir sind gerade dabei, unsere Ausbildung auch universitär zu machen", sagt Matschiner-Zollner, "und zwar in Form eines Post-Graduate-Lehrgangs an der Universität Wien."

Aus ihrer Sicht ist von Adlers Thesen vor allem "die Beschäftigung mit dem Selbstwert" brennend aktuell. "Hinter den heute gängigen Begriffen ,Größer, reicher, schöner‘ und ,Nichts ist genug‘ steht ja ein großes narzisstisches Defizit, das so überkompensiert werden muss - das ist genau die zentrale Aussage Adlers."

Das soziale Engagement der Individualpsychologen im Sinne Adlers äußere sich darin, "dass wir uns besonders um die Menschen kümmern, die gesellschaftlich am wenigsten zu sagen haben". Einen besonderen Schwerpunkt bildet das als eigener Verein agierende Zentrum "Boje" für Kinder und Jugendliche in Krisen.

Vom Opfer zum Täter

Weiters hebt Matschiner-Zollner hervor: "Wir betreuen zum Beispiel in einem Projekt Multi-Problem-Familien, die durch alle Raster durchfallen, etwa tschetschenische Flüchtlinge, die ein riesiges Trauma aufzuarbeiten haben. Wir reflektieren das tiefenpsychologisch. Wenn jemand kriminell wird, ist das oft nicht kriminelle Energie, sondern die Verarbeitung eines Traumas."

Aus dieser Sicht gibt es auch eine Erklärung für das furchtbare Attentat auf den Boston-Marathon durch junge Männer tschetschenischer Abstammung: "Dort, wo ein Trauma nicht bearbeitet wurde, wo der mit einer Erfahrung überforderte Mensch keine Hilfe bekam, muss er irgendwie schauen, dass er damit fertig wird. Das kann dazu führen, dass er das, was er erlebt hat, selber in Szene setzt. Die Rolle von Opfer und Täter verkehrt sich - ich bin nicht mehr Opfer, ich bin Täter."