Rund 150 Privatautos fuhren nach Ungarn und holten Flüchtlinge nach Österreich. Es kam zu keinen Verhaftungen.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 9 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Györ. Er ist fast zu spät. Als Konstantin Kaiser den Parkplatz beim Wiener Ernst-Happel-Stadion am Sonntag kurz nach 11 Uhr erreicht, hat sich der Flüchtlingskonvoi noch nicht in Bewegung gesetzt. Vor vierzig Minuten hatte Kaiser einen Anruf seiner Tochter erhalten: Sie wolle heute doch nicht mit ihm in die Therme gehen, sondern lieber Flüchtlinge aus Ungarn illegal über die Grenze nach Österreich bringen.
Der Exilforscher Kaiser sagt dem humanitären Sonntagsausflug kurzerhand zu und macht gemeinsam mit seiner Tochter bei der Initiative "Flüchtlingskonvoi" mit: In einer Autokolonne von rund 150 Fahrzeugen bieten Privatpersonen Flüchtlingen Mitfahrgelegenheiten nach Wien an. Dass darauf laut ungarischem Gesetz Haftstrafen bis zu drei Jahren drohen und vergangene Woche vier Wiener kurzfristig verhaftet wurden, als sie Flüchtlinge transportierten, schreckt die Teilnehmer nicht ab.
Womöglich fand die Aktion einen Tick zu spät statt: An der A4 selbst gab es am Sonntag keine Flüchtlinge, denen geholfen werden konnte. Das Hupkonzert beim Grenzübergang Nickelsdorf fand wie geplant statt, doch danach setzte Rätselraten darüber ein, wie es weitergehen solle. Nach einer kurzen Beratung wurde der Plan gefasst, die Kolonne auf drei Konvois aufzuteilen: Einer fuhr in Richtung Budapest, ein zweiter nach Györ, der dritte nach Hegyeshalom.
Der Zugverkehr funktioniert
Direkt vor dem Bahnhof in Györ parkt bereits ein großer weißer Kombi. Er gehört Kay Mühlmann, am Gehsteig wühlen sich Mütter durch die von ihm gebrachten Kleider, währen ihre Kinder Bananen und Spielzeug einsammeln. "In Györ kommen seit gestern immer wieder Flüchtlingsgruppen zu Fuß vom zehn Kilometer entfernten Flüchtlingslager Vamosszabadi an und nehmen sich Schuhe und warme Kleidung", berichtet Mühlmann, der in der Nacht auf Sonntag in seinem Auto geschlafen hat. Er meint es sei nicht unbedingt notwendig, die Menschen mit Privatautos zur Grenze zu bringen. Der Zugverkehr funktioniere - in Österreich können Flüchtlinge gratis reisen -, und Familien wollen oft nicht in verschiedene Fahrzeuge aufgeteilt werden.
Wann fahren Züge? Wieviel kosten sie? Wie komme ich nach Deutschland? Die Aktivisten, die aus Wien und anderen österreichischen Städten angereist sind, beraten die Flüchtlinge, bringen sie vom Flüchtlingslager Vamosszabadi zum Bahnhof oder nehmen sie nach Wien mit. Olivia und Konstantin Kaiser bringen drei junge Burschen aus Syrien über die Grenze. Doch eigentlich wollen diese nicht nach Österreich, sondern nach Deutschland.
"Nirgendwo ist es so schlecht wie in Ungarn"
Seit knapp zwei Wochen sind sie auf der Flucht. Mit Händen und Füßen erzählt einer von ihnen, dass alle seine Geschwister von IS-Milizen erschossen wurden. Dann zieht er sein T-Shirt ein Stück in die Höhe und zeigt die Schusswunde in seinem Bauch. Auf seiner Fluchtroute seien die Menschen nett und die Flüchtlingslager in Ordnung gewesen – nur nicht in Ungarn, sagt der 19-Jährige, und zeigt die Fotos auf seinem Handy: Kaputte Bettenlager und sanitäre Anlagen, die diesen Namen kaum verdienen.
Immer mehr Familien kommen in Györ an, ein kleiner Bub nimmt einen Teddy aus einer Kiste und kuschelt sich an ihn. "Allein für dieses Bild hat sich das alles schon ausgezahlt", sagt Richard Pigal. Er ist – der Kofferraum voller Stofftiere, Windeln und warmer Kleidung – um sechs Uhr früh aus Thalheim bei Wels aufgebrochen, um sich dem Konvoi anzuschließen. Um den Hals trägt er ein Pfadfindertuch, der Versicherungsangestellte war noch nie demonstrieren, hat noch nie bei einer ähnlichen Aktion teilgenommen. Ganz im Gegensatz zu den beiden Pakistani, die er mit nach Wien nimmt: Die beiden Studenten stammen aus dem Swat Tal, als einer von ihnen einen "Friedensmarsch" organisieren wollte, erhielt er Morddrohungen von den Taliban.
Das war vor zwei Jahren, seither ist er auf der Flucht. Bei der Rückfahrt ist Pigal dann doch kurz verunsichert, ob er mit den beiden Pakistani auf dem Rücksitz an der Grenze von der Polizei aufgehalten wird. Immerhin warten seine Frau und seine zehnjährige Tochter – ihre Stofftiere hat er soeben an Flüchtlingskinder verschenkt – in Oberösterreich auf ihn. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie uns alle verhaften", sagt er und verweist auf die Sicherheit, die ihm die Kolonne gibt. Zurück auf österreichischem Boden wirkt er dennoch erleichtert und ruft: "Guys, we are in Austria". Die Burschen auf der Rückbank applaudieren, sind aber nicht ganz so aufgeregt. Sie haben schon viele Grenzen passiert.