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Ein irrationaler Ausverkauf an der Börse

Von Andrey Wolfsbein

Gastkommentare
Andrey Wolfsbein ist Börsenexperte beim internationalen Finanzdienstleister Freedom Finance. Das Unternehmen mit mehr als 370.000 Kunden unterstützt aktuell humanitäre Hilfsorganisationen in der Ukraine mit 2,7 Millionen Euro.
© Freedom Finance / Pavlo Slobodnychenko

Der Technologiesektor, der von der Pandemie profitierte, erlebt nun einen Einbruch. Wie geht es mit Netflix & Co. weiter?


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Als die Pandemie vor mehr als zwei Jahren begann, florierten die Technologieunternehmen und gehörten zu den absoluten Gewinnern an der Börse. Doch nun, da ein Großteil der Bevölkerung wieder zur Arbeit geht und weniger Zeit zu Hause verbringt, erleidet der Technologiesektor starke Verluste, da die Anleger befürchten, dass den von der Pandemie begünstigten Unternehmen die Luft ausgehen wird. Ernüchterung macht sich breitbreit.

Big Tech hat heuer über das erste Quartal etwa 6 Billionen Dollar an Wert verloren, da viele der weltweit größten Unternehmen immer noch unter den Auswirkungen der nicht erfüllten Gewinnerwartungen leiden. Peloton, eines der beliebtesten Unternehmen in den frühen Tagen der Pandemie, gab vor kurzem bekannt, dass es in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 einen Verlust von 757 Millionen Dollar eingefahren hat, deutlich mehr als von Analysten vorhergesagt. Die Aktien gaben dementsprechend nach, sodass der Marktwert der Connected-Fitness-Marke auf etwa 4 Milliarden Dollar herunterrasselte, mehr als 90 Prozent unter dem Höchststand von 47 Milliarden Dollar Anfang 2021.

Die Aktie eines weiteren Corona-Lieblings, Netflix, fiel von ihrem Rekordhoch im November um etwa 75 Prozent, nachdem das Unternehmen im ersten Quartal 200.000 Abonnenten verloren hatte und für das zweite Quartal aufgrund der wachsenden Konkurrenz weitere Verluste von mehr als 2 Millionen drohen. Diese Ertragseinbußen sind vielleicht die größten Anzeichen dafür, dass die Pandemieblase geplatzt ist, da immer mehr Verbraucher ihre Kaufgewohnheiten von digitalen Online-Erlebnissen auf reale Erfahrungen verlagern.

Darüber hinaus scheinen Kleinanleger, die individuell am Aktienmarkt handeln, ihr Interesse an Big Tech verloren zu haben. Während der Pandemie wurden etwa 25 Prozent der Aktien von diesen nicht-professionellen Anlegern gehandelt, nicht zuletzt deshalb, weil die Menschen von daheim aus arbeiteten. Jetzt hat etwa die Hälfte dieser Anleger den Aktienmarkt wieder verlassen, weil immer mehr Technologieunternehmen die Gewinnerwartungen nicht erfüllen und der Hype um Aktien wie etwa Gamestop erst einmal als beendet angesehen werden kann. Das ist ein Faktor, über den nicht genug gesprochen wird. Viele Käufer haben beschlossen, den Markt für eine Weile auszusitzen.

Während die Anleger die Risiken abwägen, zweifelt die Wall Street scheinbar bereits an der Fähigkeit von Big Tech, jene Dynamik aufrechtzuerhalten, die erforderlich ist, um die hohen Bewertungen zu rechtfertigen, die durch die beispiellose Nachfrage nach neuen Technologien durch die Pandemie ausgelöst wurden. Doch der Ausverkauf ist auch irrational und zu weit gegangen, da die Notwendigkeit vieler Technologieprodukte weiterhin gegeben ist. Denn die Nachfrage nach Cloud-Services, Cyber-Sicherheit und anderen Online-Diensten auf Unternehmensseite ist weiterhin hoch.

Erinnerungen an die Dotcom-Blase

Der jüngste Absturz mag so manchen an das Platzen der Dotcom-Blase in den frühen 2000er Jahren erinnern. Zwar fällt der Nasdaq nicht so schnell wie damals, aber das Ausmaß ist ähnlich, und die Tendenz ist sogar noch deutlicher. Damals verlor der US-Technologieindex in den ersten drei Monaten etwa ein Drittel seiner Kapitalisierung, erholte sich dann aber wieder. Anfang September lag er, wie in einigen Wochen im Juli und August 2000, nur noch 17 Prozent von seinem Allzeittief entfernt. Den damaligen Tiefststand erreichte der Index im Oktober 2002 mit 1.114 Punkten.

Interessant ist in dieser Hinsicht ein Blick auf den aktuellen Anstieg der Leerverkäufe: Laut Goldman Sachs war das Volumen der Leerverkäufe in den ersten Wochen seit Jahresbeginn das höchste seit zehn Jahren - Hedgefonds haben ihre Short-Positionen seit Anfang November 2021 wöchentlich aufgestockt. Ähnliches geschah vor dem Platzen der Dotcom-Blase.

Auch ein Blick auf die IPO-Zahlen ist interessant, denn laut Deallogic gab es im Jahr 2020 in den USA 454 Börsengänge (einschließlich jenen, bei denen Geld für Übernahmen eingesammelt wurde - sogenannte SPACs) im Wert von insgesamt 167 Milliarden US-Dollar. Der bisherige Rekord wurde im Jahr 1999 aufgestellt, als 547 Unternehmen ihre Aktien im Wert von 108 Milliarden US-Dollar an die Börse brachten - eine weitere Parallele.

Aktuell gibt es viele Faktoren, die den Technologieaktienmarkt nach unten ziehen und an den Dotcom-Crash erinnern: Inflation, die flache Renditekurve, das künstliche Wachstum in einem fallenden Markt. Doch der wesentliche Unterschied zu damals ist, dass die Federal Reserve bereits im Prozess war, die Geldpolitik zu straffen, während sie jetzt gerade erst damit begonnen hat.

Steigende Zinsen belasten den Markt

Weil die Inflation den höchsten Stand seit 40 Jahren erreicht hat, hat die US-Notenbank bereits zum zweiten Mal im heurigen Jahr eine Leitzinserhöhung vorgenommen und wird bald ihre 9 Billionen Dollar schwere Bilanz reduzieren, um zu versuchen, die Preise wieder unter Kontrolle zu bringen. Solche Maßnahmen beunruhigen in der Regel die Wall Street, da die Anleger befürchten, dass die Kreditaufnahme für Unternehmen und Haushalte dadurch teurer wird, was das Wirtschaftswachstum bremsen kann.

Dies versuchen die Beamten der Fed jedoch zu vermeiden. Ihr Ansatz besteht darin, die Zinssätze bis Ende 2022 auf über 2 Prozent zu erhöhen, ohne die Märkte dabei zu beunruhigen. Man könnte argumentieren, dass die Fed dies schon früher hätte tun sollen, aber sie hatte keine andere Wahl, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewahren und die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Der rasche Anstieg der Zinssätze hat die Anleger gezwungen, zu überdenken, ob Aktien, die in einem Umfeld mit niedrigen Zinssätzen floriert haben, auch in einer Welt mit höheren Zinssätzen weiterhin erfolgreich sein können. Die Ungewissheit und die vielen Fragezeichen sind ein Grund dafür, dass die Anleger weniger Risiken bei Technologieunternehmen eingehen, die bei höheren Zinsen und teureren Krediten tendenziell schlechter abschneiden.

Nach einer solch massiven Korrektur auf dem Technologiemarkt ist es keine gute Idee, übereilt stürzenden Aktien zu kaufen und ins fallende Messer zu greifen. Investoren sollten sich lieber vorsichtig umsehen und sich bei Verlust machenden Unternehmen zurückhalten. Es lohnt sich, einen genauen Blick auf die Unternehmenszahlen zu werfen: Eigenkapitalrendite, Gewinn pro Aktie, Kurs-/Buchwert-Verhältnis, Dividendenausschüttungen, Umsatz- und Nettogewinnwachstum, Brutto-Cashflow. Ein guter Zeitpunkt für einen umfassenden Kauf wird wahrscheinlich in der zweiten Jahreshälfte sein, wenn die Inflationsängste allmählich nachlassen sollten und die erzwungenen Ausverkäufe vorbei sind.