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Projekt-Gegner stellen den Landeschef, haben aber schlechte Chancen.
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Stuttgart. Am Sonntag geht es in Stuttgart um die Wurst, doch Deutschlands erster Grüner Ministerpräsident bleibt gelassen. Schließlich ist Winfried Kretschmann im Frühjahr mit dem Versprechen angetreten, "diesen ruppigen Regierungsstil" seines Vorgängers Stefan Mappus (CDU) zu ändern. Baden-Württemberg wird über das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 abstimmen, und für die Gegner - darunter Kretschmann - sieht es nicht gut aus. Das Ergebnis werde jedenfalls akzeptiert: "So ist es halt in der Demokratie, wenn sie direkt ist", sagt der 63-Jährige.
Seit 15 Jahren wird über das Vorhaben gestritten, einen neuen Bahnhof in Stuttgart zu bauen. Schon Mitte 1990 kämpften Baden-Württemberger für ein Bürgerbegehren, ein weiterer Anlauf folgte einige Jahre später. Der Baubeginn rückte näher. In den vergangenen zwei Jahren gingen Tausende Gegner Montag für Montag und am Wochenende auf die Straße. Anfang dieser Woche fand die 100. Demonstration statt. Der alte Bahnhof dürfe nicht abgerissen und durch einen neuen ersetzt werden, der noch dazu viel koste, sagen die Gegner. "Fortschrittsverweigerer" nennen die Befürworter sie. Die Stadt dürfe nicht "abgehängt" werden, ein Ausstieg käme außerdem viel zu teuer.
Konservative, Liberale und die Parteispitze der SPD sind für "S21". Mit den Sozialdemokraten hat sich Kretschmann im Wahlkampf darauf geeinigt, im Fall einer Regierungsbeteiligung ein Referendum abhalten zu wollen.
Bauherr des Projekts "S21" ist die Deutsche Bahn AG. An der Finanzierung beteiligen sich auch Bund, Land und Stadt. Den Grünen ist das Projekt zu teuer: Von 2,8 Milliarden Euro ist 2007 die Rede gewesen, heute spricht die Bahn von 4,1 Milliarden. Doch wie für viele Bürger ist das für Kretschmann nicht der einzige Grund, gegen Stuttgart 21 zu sein. Man fühlte sich von der Politik nicht ordentlich informiert und witterte Verfilzung von Politik und Wirtschaft. So hatte sich Kretschmann schon im Wahlkampf für "mehr Bürgerbeteiligung" ausgesprochen.
Außerordentliche Kündigung des Vertrags
Anstelle des Landesparlaments können deshalb am Sonntag die 7,5 Millionen wahlberechtigten Baden-Württemberger über das Ausstiegsgesetz der Grün-Roten Landesregierung abstimmen. Der Finanzierungsvertrag ist seit Ende 2009 nicht mehr kündbar - es geht jetzt also um eine außerordentliche Kündigung. Eine solche sei möglich, wenn der 2009 vereinbarte Finanzplan gesprengt wird, sagt die Regierung. Vereinbart wurden damals Maximalgesamtkosten von 4,5 Milliarden Euro für den Bahnhof und die geplante ICE-Trasse Ulm-Wendlingen.
Bahnchef Rüdiger Grube geht davon aus, dass mit der kommenden Abstimmung ein Schlussstrich gezogen wird: Er glaubt nicht, dass die Gegner die notwendige Mehrheit zusammenbekommen. Tatsächlich wird es für die Gegner nicht einfach: Laut Landesverfassung müssen mindestens 33,33 Prozent aller Wahlberechtigten für das Gesetz der Regierung sein. Dieses trägt den sperrigen Titel "Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen zu dem Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21-Kündigungsgesetz)" - ein Ja zur Gesetzesvorlage heißt ein Nein zum Bau des unterirdischen Bahnhofs. Wie stark aber ist der Wähler im 200 Kilometer entfernten Freiburg am Stuttgarter Bahnhof interessiert, wie sehr jener in Konstanz, das fast ebenso weit weg ist? Wird die Frau im Altersheim zur Abstimmung gehen? Nützt der Mann im Krankenhaus die Möglichkeit zur Briefwahl?
Selbst wenn die Gegner gewinnen, ist "S21" noch lange nicht gestoppt. Zunächst müssten die Maximalkosten überschritten werden. Kündigt in diesem Fall das Land den Vertrag, wird die Bahn freilich klagen. Für das Land kommt ein Ausstieg laut Bahn auf 1,5 Milliarden Euro; Baden-Württembergs Verkehrsminister, ein Grüner, rechnet mit "maximal" 350 Millionen Euro an Schadenersatzzahlungen. Und schließlich bleibt dann noch die Frage, ob die Bahn den Finanzierungsteil des Landes übernimmt.
Fortgeschrittenes Alter. Konservativ in politischen Ansichten und im Zusammenleben. Gut situiert. Früher "staatstragend", jetzt "zutiefst empört über die Politiker". Das ist der Wutbürger. So jedenfalls beschrieb ihn der Journalist Dirk Kurbjuweit vergangenes Jahr im Nachrichtenmagagzin "Spiegel". Kurbjuweit nahm die "nackte Wut" auf den Buchautor Thilo Sarrazin und die Proteste gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 zum Anlass für seinen Essay und schuf die neue Figur, die seither durch die Medien geistert.
Stimmt dieses Bild? Wer sind diejenigen, die in Stuttgart monatelang auf die Straße gingen? Und hat man es in Deutschland mit einer neuen Protestkultur zu tun?
"Nein", sagt Dieter Rucht, Soziologieprofessor am Wissenschaftszentrums Berlin. Schon seit den 1950er/60er Jahren werde in der Bundesrepublik wieder mehr protestiert. In den frühen 2000er Jahren seien die Proteste wieder zurückgegangen - und hätten in den vergangenen zwei Jahren "vermutlich" wieder etwas zugenommen, Zahlen gebe es keine. "Feststeht, dass die Protestlandschaft vielfältiger und spezifischer wurde", sagt Rucht. Es protestierten nicht mehr nur Arbeiter und Studenten für mehr Rechte, sondern auch Milchbauern für höhere Preise, Zahnärzte für mehr Geld, Polizisten für bessere Arbeitsbedingungen.
Die Demonstranten in Stuttgart stammten laut einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin mehrheitlich aus der linken Mitte, dem "grünen Lager". Die stärkste Gruppe waren die 40- bis 64-Jährigen. Es handelte sich um "Leute, die das Gefühl hatten, mit uns wurde nicht fair umgegangen", so Rucht.
Wissen: Der Wutbürger
Fortgeschrittenes Alter. Konservativ in politischen Ansichten und im Zusammenleben. Gut situiert. Früher "staatstragend", jetzt "zutiefst empört über die Politiker". Das ist der Wutbürger. So jedenfalls beschrieb ihn der Journalist Dirk Kurbjuweit vergangenes Jahr im Nachrichtenmagagzin "Spiegel". Kurbjuweit nahm die "nackte Wut" auf den Buchautor Thilo Sarrazin und die Proteste gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 zum Anlass für seinen Essay und schuf die neue Figur, die seither durch die Medien geistert.
Stimmt dieses Bild? Wer sind diejenigen, die in Stuttgart monatelang auf die Straße gingen? Und hat man es in Deutschland mit einer neuen Protestkultur zu tun?
"Nein", sagt Dieter Rucht, Soziologieprofessor am Wissenschaftszentrums Berlin. Schon seit den 1950er/60er Jahren werde in der Bundesrepublik wieder mehr protestiert. In den frühen 2000er Jahren seien die Proteste wieder zurückgegangen – und hätten in den vergangenen zwei Jahren "vermutlich" wieder etwas zugenommen, Zahlen gebe es keine. "Feststeht, dass die Protestlandschaft vielfältiger und spezifischer wurde", sagt Rucht. Es protestierten nicht mehr nur Arbeiter und Studenten für mehr Rechte, sondern auch Milchbauern für höhere Preise, Zahnärzte für mehr Geld, Polizisten für bessere Arbeitsbedingungen.
Die Demonstranten in Stuttgart stammten laut einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin mehrheitlich aus der linken Mitte, dem "grünen Lager". Die stärkste Gruppe waren die 40- bis 64-Jährigen. Es handelte sich um "Leute, die das Gefühl hatten, mit uns wurde nicht fair umgegangen", so Rucht.