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Kommunistische Partei will sich legitimieren.
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Peking. Dieser Tage muss Chen Sisi wieder so viel träumen, dass ihr kaum Zeit zum Schlafen bleibt. Die Sängerin ist Star und Aushängeschild des Musikcorps von Chinas Nuklearraketen-Truppe und dominierte mit ihrer Ballade "Der chinesische Traum" über Monate die heimischen Hitparaden. In den Wochen vor dem Parteiplenum, das dieses Wochenende tagt und bei dem die Weichen für Chinas Zukunft gestellt werden sollen, wurde sie noch einmal durch sämtliche Unterhaltungsshows der staatseigenen Fernsehsender gereicht, um das Publikum auf die neue Leitlinie der chinesischen Politik einzuschwören: "Du und ich hören den Ruf der Geschichte; du und ich folgen dem ewigen Wunsch, die Nation zu inspirieren. Das ist unser chinesischer Traum auf dem Weg zur großen Erneuerung!"
Allgegenwärtiges Schlagwort
Während sie singt, zeigen Vidiwalls im Hintergrund Bilder
von Hochgeschwindigkeitszügen, Kampfjets heben von Chinas erstem Flugzeugträger "Liaoning" ab und ethnische Minderheiten tanzen in farbenfrohen Kostümen durch idyllische Landschaften.
Dem Blog der singenden Stabsoffizierin Chen, auf dem sie sich weitere Gedanken über den chinesischen Traum macht, folgen mehr als 1,1 Millionen Fans. Und doch ist sie nur ein Rädchen jener großen Propagandamaschinerie, welche die Kommunistische Partei Chinas (KP) in Gang gesetzt hat, um das Leitmotiv der neuen Staatsführung zu verbreiten.
Schulen veranstalten Rede-Wettbewerbe zum Thema "Chinesischer Traum", statt "Modellarbeitern" wählen Parteioffizielle nunmehr "Modellträumer" aus, welche die Kollegen in den Fabriken und Büros mit ihren Ideen inspirieren sollen. Und in den Buchhandlungen hat die einschlägige Literatur zum neuen Thema Nummer eins die bisher so beliebten "Werde erfolgreich!"-Ratgeber verdrängt. Dem Direktor der Zentralen Parteihochschule Liu Yunshan reichte das immer noch nicht: Der frühere Leiter der Propagandaabteilung ließ das Traumkonzept mittlerweile in den Schulbüchern verankern, um sicherzugehen, dass es "in die Gehirne der Schüler" gelange.
Zu verdanken hat China die nunmehr allgegenwärtige Phrase Staats- und Parteichef Xi Jinping. Am 29. November 2012, zwei Wochen nach seiner Ernennung zum KP-Generalsekretär und Oberbefehlshaber der Streitkräfte besuchte er das Nationalmuseum am Tiananmen. Flankiert von sechs dunkel gekleideten Kollegen des Ständigen Ausschusses des Politbüros sagte Xi vor Pressevertretern: "Der größte chinesische Traum ist die große Wiedergeburt der chinesischen Nation." Bis in die Mitte dieses Jahrhunderts solle eine "reiche, starke, demokratische, zivilisierte, moderne, sozialistische und harmonische Gesellschaft" entstehen, erklärte er den neuen Leitbegriff, mit dem er sich in die Tradition seiner Vorgänger einreihte.
Nach Mao Zedong wählten alle chinesischen Führer ein persönliches Motto, das eine Vision oder komplexe, politische Vorhaben in einem kurzen, leicht zu merkenden Schlagwort wiedergeben sollte. Das war zumindest noch bei Deng Xiaoping der Fall, der sich "Reform und Öffnung" auf die Fahnen heftete und seine umwälzenden Vorhaben mit zwei simplen Worten auf den Punkt brachte. Bei seinem Nachfolger Jiang Zemin und seinen "Drei Vertretungen" wussten hingegen teilweise nicht einmal Parteimitglieder, was damit gemeint sein sollte. Und Hu Jintao wählte zur Sicherheit gleich zwei Leitmotive. Seine "Politik der wissenschaftlichen Entwicklung" wird wohl weniger haften bleiben als der ebenfalls propagierte "Aufbau einer harmonischen Gesellschaft".
Motto ohne Ideologie
Im Gegensatz dazu spielt Xi Jinpings Motto weder auf Ideologien noch Parteipolitik an und scheint weniger informieren denn inspirieren zu wollen. Und es ist offen für Interpretationen, weshalb Blogger, Zeitungskommentatoren und Prominente darum wetteifern, ihre eigenen Definitionen abzugeben.
Der eine versteht mehr Wohlstand darunter, der andere eine bessere Umwelt, der dritte wiederum eine Wiedervereinigung mit Taiwan.
Die aktuell prominenteste Deutung hat Xi Guoliang mit seinem Buch "Den chinesischen Traum erklären" geliefert: "Wenn man von der Wiederbelebung einer Person, eines Unternehmens oder eines Landes spricht, dann bedeutet das eine Rückkehr zu den glänzendsten Momenten der Geschichte", schreibt der Pekinger Professor für Marxismus-Leninismus in seinem Bestseller.
Allein die Popularität des schwülstigen Werkes zeigt, dass "das Wiederaufblühen der chinesischen Nation" tatsächlich ein Schlüsselbegriff ist, mit dem sich sowohl weite Teile der Bevölkerung als auch die intellektuelle Elite identifizieren können. Die künftige Bestimmung Chinas scheint dabei in der Vergangenheit zu liegen: In der Wiedererlangung jener Vitalität, Größe und Bedeutung, die das Land vor seiner Konfrontation mit den europäischen Mächten im 19. Jahrhundert hatte.
Mit traumwandlerischem Gespür wählte Xi Jinping für die Präsentation seines Slogans einen symbolisch aufgeladenen Ort: Das Nationalmuseum in Peking liegt nicht nur in unmittelbarer Nähe zu Maos Mausoleum, sondern zeigt mit seiner Ausstellung "Weg zur Wiedergeburt" die Entwicklung Chinas seit dem ersten Opiumkrieg (1839-42).
Diese sei demnach eine Geschichte von Kränkungen und Leiden und der finalen Rettung durch die KP vor den imperialistischen Mächten des Westens und Japan. Vor diesem Hintergrund zeigte Xi nicht nur seine Muskeln als Nationalist, sondern präsentierte sich vor allem als Parteisoldat, dem es um die Vitalisierung eines Staatswesens geht, das sich selbst für das Ganze hält.
Die verunsicherte Nation

Das wiederum hat historische Wurzeln: Mehr als zwei Jahrtausende lang hielt sich China für die Mitte der Welt, deren Zivilisation in alle Himmelsrichtungen ausstrahlt. Wer sich diesem System mit Tributzahlungen an den allmächtigen Kaiser unterordnete, gehörte zur Welt, alle anderen waren "Barbaren". Dabei hielt es China auch nicht für nötig, andere Zivilisationen von ihrem Glück zu überzeugen (es gab schließlich ohnehin nur eine), im Gegenteil: Das Reich war sich selbst genug und in fast jeder Periode seiner Geschichte mächtiger, wohlhabender, entwickelter und kosmopolitischer als Europa.
Noch im Jahr 1820 machte Chinas Wirtschaft dem britischen Wirtschaftshistoriker Angus Maddison zufolge fast ein Drittel der Weltwirtschaft aus. Erst 1842 zwangen die Briten den chinesischen Kaiser mit Gewalt, seine Häfen für westliche Waren zu öffnen, und parallel zur bisher geltenden chinesischen Weltsicht krachte das gesamte Reich Schlag auf Schlag in sich zusammen.
Für Buchautor Xi Guoliang ist die daraus resultierende Verunsicherung bis heute nicht überwunden: "China hat immer gedacht, dass es das Zentrum der Welt sei, aber die Opiumkriege haben diese Sicht zerstört. Die westlichen Kulturen sind eingedrungen und haben unsere Gedankengebäude zum Einsturz gebracht. Seitdem träumt die chinesische Nation von einer Wiederbelebung. Nie waren wir der Erfüllung des Traums so nahe wie jetzt unter der Führung von Xi Jinping."
Doch knapp ein Jahr nach seiner Inthronisierung ist nach wie vor unklar, wie der 60-jährige Staatschef dieses Versprechen einzulösen gedenkt. Bis jetzt blieb es eher bei Allerwelts-Floskeln wie "Unsere Mission ist es, die Wünsche des Volkes für ein glückliches Leben zu erfüllen" und öffentlichkeitswirksamen Kampagnen gegen Korruption. Immerhin gibt es eine Roadmap, wonach sich das Pro-Kopf-Einkommen der 1,3 Milliarden Chinesen in den nächsten zehn Jahren verdoppeln soll.
Land auf der Überholspur
Bis 2049, wenn die Volksrepublik 100 Jahre alt wird, will sie die USA eingeholt haben, politisch, wirtschaftlich und auch militärisch. Das Parteiplenum soll nun die Antwort darauf geben, wie das konkret gelingen soll, wobei jedoch nicht alle Fragen geklärt werden dürften - vor allem, ob zur "Renaissance" des Landes auch militärische Coups wie die Einnahme der Senkaku-Diaoyu-Inseln gehören, um die sich China mit Japan streitet. Einerseits betont Xi auffallend häufig einen "starken Armee-Traum" und schwört seine Truppe darauf ein, mit dem "Geist einer starken Armee" künftig Schlachten zu gewinnen. Andererseits hat China historisch gesehen kaum jemals andere Länder mit Krieg überzogen, umso öfter tobte die Gewalt im Inneren: Bürgerkriege, Rebellionen und politische Verfolgung kosteten Millionen Menschen das Leben.
Mit dem Traumkonzept versucht die KP nicht zuletzt auch, eine neue Quelle der Legitimität zu schaffen, die sie unter anderem durch eine Fülle an Korruptionsskandalen gefährdet sieht. Durch die Anspielung auf den amerikanischen Traum (Haus! Auto! BigMac!) will Xi die neue Mittelschicht ansprechen, deren Vertrauen in die Führung nicht uneingeschränkt zu sein scheint.
Denn anders als sein Vorgänger Hu Jintao vor zehn Jahren hat der neue Präsident mit sinkenden Wirtschaftsdaten und steigender Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Zumindest Xi Jinping selbst scheint nach wie vor gut zu schlafen, wie er einmal in einem internen Meeting anmerkte: "Der chinesische Traum ist ein Ideal. Kommunisten sollten ein höheres Ideal haben, und das ist das Ideal des Kommunismus."