Rückhalt für Politik sinkt in Geber- wie Empfängerländern. | Sparmaßnahmen ersticken Wachstum. | Krisentreffen zu Griechenland - Euro auf Talfahrt. | Wien. Monatelang war über die Hilfe für Griechenland gestritten worden. Dann musste es im Mai 2010 plötzlich schnell gehen: Binnen weniger Tage hatte sich die Lage so zugespitzt, dass Europas Finanzsystem zu kollabieren drohte. | 'Brauchen einen Investitionsfonds'
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Das räumt selbst die - der Panikmache unverdächtige - Europäische Zentralbank (EZB) ein. Im aktuellen Jahresbericht schreibt Präsident Jean-Claude Trichet von einer "akuten Verschärfung der Lage an den Finanzmärkten". Der Handel mit Staatsschuldpapieren der Eurozone fand nicht mehr statt, die Investoren traten in Käuferstreik. Wie nach der Lehman-Pleite in den USA begannen die Banken, einander zu misstrauen, und stellten ihre Geschäfte nahezu ein.
Was war passiert? Nach langem Zaudern vor allem Berlins hatten die 16 Eurostaaten Griechenland 110 Milliarden Euro aus zwischenstaatlichen Hilfskrediten zugebilligt Die Finanzmärkte ließen sich davon nicht beeindrucken - im Gegenteil: Die Panikspirale drehte sich noch schneller. Politik und Zentralbank waren gezwungen, rasch zu handeln - und das taten sie.
Am 9. Mai 2010 präsentierten die Verantwortlichen mit dem Währungsfonds (IWF) ihre Pläne für einen Euro-Rettungsschirm über nominell 750 Milliarden Euro. Exakt 60 Jahre nach ihrem denkwürdigen Gründungsmoment schaffte die EU eine historische Integrationsleistung: Anders als im Fall Griechenland sollte das Geld nicht bilateral aufgebracht werden, sondern durch eine gemeinsame Schuldenaufnahme auf dem Markt - ein zuvor undenkbares Signal europäischer Solidarität.
Die EU strapazierte ihre Gesetze an die Grenze des Vertretbaren. Die Nichtbeistands-Klausel, die verbietet, für die Schulden anderer Länder einzustehen, ist seither faktisch außer Kraft gesetzt. Man hätte gar nicht anders handeln können, sagt der Wiener Wirtschaftsprofessor Fritz Breuss: "Sonst hätte es die Eurozone zerbröselt."
Viele Fragen noch offen
Doch trotzdem ist die Schuldenkrise ein Jahr nach dem Schockmoment nicht ausgestanden. Die Erwartung von Mai 2010, dass das Aufspannen des Sicherheitsnetzes ausreichen würde, war "naiv", sagt Stefan Schneider, Chefanalyst bei der Deutschen Bank. "So funktionieren die Märkte nicht. Die Spekulanten haben sich gedacht: Na, das wollen wir mal sehen!" Da sich die Ungleichgewichte der Eurozone über eine Dekade lang aufgebaut hätten, sei es wenig verwunderlich, dass einige Peripherieländer krachten. Irland schlüpfte im November 2010 unter den Schirm, Anfang April 2011 kam Portugal um den Hilferuf nicht herum.
Auf Pleite unvorbereitet
Für den Moment hat es zwar den Anschein, als könnten die Euro-Schwergewichte Spanien oder Italien eine Ansteckung durch die Krise vermeiden. Unantastbar sind sie aber nicht: "Am Ende des Tages sind alle Länder in der Eurozone peripher", sagt Stefan Bruckbauer, Chefökonom der Bank Austria. An den großen Problemen der Währungsunion hat sich zudem wenig geändert:
* Gründungsmanko: Schon vor der Euro-Einführung wurde gewarnt, dass eine Währung ohne politische Union zum Scheitern verdammt sei. Zumindest während der "Schönwetterperiode" habe der Euro funktioniert, sagt Breuss. Die Pleitegefahr Griechenlands traf die EU aber völlig unvorbereitet.
Auch jetzt lehnt die EU eine solidarische Kreditaufnahme der Euroländer im großen Stil (etwa über gemeinsame Anleihen, "Eurobonds") ab. Stattdessen soll eine bessere wirtschaftliche Koordinierung ("Euro-Plus-Pakt") die fehlende politische Einigung kompensieren. Brüssel kann aber weiterhin nicht in nationale Steuern, Ausgaben und Löhne eingreifen. Dennoch sieht Peter Mooslechner, Chefvolkswirt der Oesterreichischen Nationalbank, das Glas halb voll: "Es ist in diesem Jahr für europäische Verhältnisse irrsinnig viel passiert, das ich in dieser Form nicht erwartet hätte - auch auf politischer Seite." Die Grundfrage sei: "Will Europas Bevölkerung eine stärkere politische Integration, an deren Ende ein weitgehender Verzicht auf den Nationalstaat steht?"
* Vertrauenskrise: Die Investoren glauben nicht, dass die hochverschuldeten Euro-Länder ihre Schulden vereinbarungsgemäß zurückzahlen - und verlangen untragbare Risikoaufschläge, welche den Schuldenberg weiter erhöhen: eine teuflische Spirale. Die EU hat darauf bisher nur eine Antwort parat: Sie bietet den Ländern Überbrückungsfinanzierungen an, wodurch sie nicht mehr auf Kredite vom Markt angewiesen sind.
Sobald diese Hilfen aufgebraucht sind, werden Griechenland, Irland und Portugal frisches Geld benötigen - dann müssen sie an den Kreditmarkt zurückkehren. Vor allem wie die Griechen das stemmen sollen, steht derzeit in den Sternen. Für Investoren ist unklar, warum sie nach Juni 2013 Anleihen der Krisenländer kaufen sollten: Ihre Forderungen sind dann unter dem permanenten Krisenmechanismus (ESM) nachrangig - und es wird ihnen mit einem Schuldenschnitt und Forderungsverzicht gedroht.
Bis dahin würden Politiker nicht öffentlich über einen Teilverzicht der Schulden spekulieren: "Einerseits wäre dann kein Anreiz für die Griechen zu Reformen gegeben. Andererseits gilt: Wer über die Seuche spricht, ruft sie herbei", sagt der Ökonom Schneider.
* Die Geberrebellion: Vermutlich werden weitere Überbrückungskredite nötig sein. Dagegen ist der Aufstand von Geberländern wie Deutschland programmiert: Politische Mehrheiten sind alles andere als sicher. Schon jetzt profitieren europaweit populistische Parteien von der Anti-Euro-Stimmung - siehe Wahre Finnen, siehe auch FPÖ.
Dabei wird eines übersehen: Die Euro-Sorgenkinder erhalten das Geld aus den Rettungsschirmen nicht geschenkt, sondern sollen dafür Zinsen bezahlen, die ihre finanziellen Möglichkeiten übersteigen. Somit ist den verschuldeten Ländern mit den Krediten gar nicht wirklich geholfen: Auf den Schuldenberg werden weitere Zinsen draufgepackt.
* Aufstand gegen Sparpakete: Für die Kredite bezahlen die Empfänger noch einen weiteren hohen Preis: Die EU und der IWF erlegen den Ländern harte Sparmaßnahmen und Wirtschaftsreformen auf. Diese ersticken allerdings das Wachstum, erhöhen die Arbeitslosigkeit und erzeugen somit Widerstand. Kein Wunder, wenn die frustrierte Bevölkerung ihren Regierungen den Rückhalt versagt: In Portugal und Irland sind die Regierungschefs darüber bereits gestolpert, auch in Griechenland stellt sich Reformmüdigkeit ein.
* Mangelnde Disziplin: Wenig überzeugend sind die Antworten der EU, wie sie künftig die Budgetdisziplin der Euroländer sicherstellen will. Der Stabilitätspakt, der bisher schon nicht funktioniert hat, soll zwar verschärft werden. Experten halten aber für unwahrscheinlich, dass je Sanktionen verhängt werden. Schon 2003 haben Deutschland und Frankreich den Pakt aufgeweicht, um Strafen zu vermeiden.
Und selbst wenn: Einem überschuldeten Land Pönalen aufzuerlegen, scheint kaum zielführend. "Es ist wie bei der Kindererziehung: Sanktionen allein können Disziplin nicht garantieren", sagt Mooslechner: "Wünschenswert wäre eine Mischung aus Solidarität und Wohlverhalten."
Mangel an Alternativen
Warum verfolgen die EU und die Eurozone unbeirrbar ihren Kurs? "Wo sind die Alternativen?", fragt Mooslechner. Letztlich bleibe nur dieser Weg: Die Schuldenlast über einen vernünftigen Zeitraum tragbar machen, aber zugleich den Druck auf die Länder aufrechterhalten. Um Sparen komme man nicht herum: "So sind alle historischen Krisen bewältigt worden." Das koste Zeit, aber es gebe keine "Tabula-rasa-Lösung".
Die Gerüchte über einen freiwilligen Austritt Griechenlands aus dem Euroraum, über die "Spiegel Online" berichtete, wurden umgehend dementiert. Experten halten das für unsinnig: Das wäre ein "Schock, den keines der Krisenländer verkraften könnte", sagt Mooslechner. Allerdings fand am Freitag ein informelles Krisentreffen der Finanzminister statt, bei dem Länder wie Deutschland und Frankreich über die Umschuldung Griechenlands berieten. Die Gerüchte reichten jedenfalls, um den Euro weiter auf Talfahrt zu schicken. Der Euro-Kurs sackte um mehr als einen Cent auf unter 1,44 Dollar ab.
Wechselkurs des Euro
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