Das Klavier ist teils Musikinstrument, teils Möbelstück, tauglich für Melodien wie für Harmonien - das Instrument der unbegrenzten Möglichkeiten.
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Das Klavier ist ein technisch anspruchsvolles Musikinstrument und ein faszinierendes kulturelles Phänomen. Es hat seinen Platz im Kammermusiksaal und im Jazzclub, in der Gastwirtschaft und in der Bar, im großbürgerlichen Salon und im Wohnzimmer der Mietwohnung. Nur in der freien Natur ist es unpraktisch, denn die gußeiserne "Harfe" im Inneren des hölzernen "Korpus", die mit 230 Saiten bespannt ist, hat ein enormes Gewicht. Wer schon einmal mit einem Klavier übersiedelt ist, weiß das. Unterwegs musiziert es sich besser mit Gitarren, Tamburinen oder Piccoloflöten . . .
Aber wenn es einmal irgendwo steht, ist das Klavier von unübertrefflicher Vielseitigkeit. Durchtrainierte Virtuosen holen Kompliziertestes aus ihm heraus, Kinder klimpern den Flohwalzer oder den Ententanz. Die einen spielen auf Präzisionsflügeln der Marken Steinway, Bösendorfer, Fazioli u.a., die anderen haben vielleicht nur ein japanisches Pianino oder ein altes, ächzendes Familienerbstück zur Verfügung. Aber so wichtig dieser Unterschied auch ist, er ändert doch nichts daran, dass im Prinzip alle - Profis wie Amateure - das gleiche Instrument spielen.
Das Klavier bietet einsamen Spielern Raum für Träumereien, Sehnsuchtswalzer und Sturmsonaten, taugt aber ebenso gut zum gemeinsamen Musizieren: Mühelos verbindet es sich mit der Geige und dem Cello zum Trio, es musiziert einverständig mit der Flöte oder mit Kontrabass und Schlagzeug; es unterstützt Sopran-, Alt-, Tenor- und Bass-Stimmen, und es ist ihm dabei gleichgültig, welche Texte gerade gesungen werden: Die bange Frage "wunderlicher Alter, soll ich mit dir gehn?" begleitet es so zuverlässig wie die Versicherung "aber der Novak lässt mich nicht verkommen" oder die Gefühlsaufwallung "Thank you for the music".
Pianoforte-Heroen
Zu den interessantesten Besonderheiten des Klaviers gehört, dass es seit eh und je das Instrument der Komponisten gewesen ist. Sie schrieben fast alle für das Klavier, und viele komponierten auch am Klavier. Begreiflicherweise: Im Unterschied zu den Streich- und Blasinstrumenten ist das Klavier ja zur Mehrstimmigkeit fähig; es ist das vielstimmige Instrument schlechthin, dessen polyphone Möglichkeiten nur von seiner großen alten Schwester, der Orgel, und von dem jüngsten Cousin, dem Synthesizer, überboten werden.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen, waren also die Komponisten der traditionellen abendländischen Musik herausragende Pianisten, und viele komponierten ihre Klavierwerke für die eigenen Hände. So lässt sich aus den Noten erschließen, dass Johannes Brahms gewaltige Hände hatte, die den unfassbar weitgriffigen Akkorden seiner Klavierkonzerte gewachsen waren. Und Beethoven muss kraftvolle Arme gehabt haben, die das damals neue "Hammerklavier" mit martialischem "Anschlag" traktierten.
War der Klang des Klaviers im 18. Jahrhundert noch eher schlank, wenn nicht gar dünn, hatten die Instrumente ab der Beethoven-Zeit ein größeres Klangvolumen. Erst da kam der Name "Pianoforte" auf, um die Bandbreite von sehr leise bis ex-trem laut herauszustreichen. Eine Verdeutschung des Namens Pianoforte, nämlich "Starkschwachtastenkasten", hat sich leider nicht durchgesetzt - obwohl sie von Ludwig van Beethoven höchstselbst stammt, dem ersten großen Klavierlöwen, der imstande war, die Kräfte des neuen Ins-truments als Komponist und als Pianist zu entfesseln.
Spaß und Angst
Doch das Klavier hat auch für schwächere Spieler einiges übrig. Das Vierhändigspielen etwa ist eine sehr zugängliche Form der Hausmusik. Als es noch keine Schallplatten gab, spielten dilettierende Pianisten ganze Symphonien, und selbst Opern tönten durchs Wohnzimmer. Weil aber zwei Dilettantenhände mit solch komplexen Werken bald einmal überfordert sind (und weil es auch ein großer Spaß ist, eine Symphonie zu zweit zu spielen), gibt es Arrangements für vier Hände. Überdies haben viele Komponisten reizvolle Originalwerke für vier Hände verfasst: Von Franz Schubert gibt es zum Beispiel grazile Märsche und schwermütige Ländler, aber auch die wunderbar schöne Fantasie in f-moll, die jedoch einige pianistische Anforderungen stellt.
Sobald von Anforderungen die Rede ist, regt sich auch die Angst. Das Klavier kann seinen Spielern Angst machen. Oder genauer gesagt: das Klavier selbst eigentlich nicht, wohl aber die Ambitionen und Frustrationen, die auftreten, wenn man über die einfachen Stückchen hinauskommen will. Da darf man nicht mehr vor sich hinklimpern, da muss man ernstlich üben. Dieses Üben wird jedem gut tun, dem es gelingt, dabei in einen "Flow" zu geraten, also in eine meditative Ruhe, in der es einem nichts ausmacht, zweihundertmal hintereinander dieselben fünf Takte zu spielen. Wenn dieses Bei-der-Sache-Sein aber ausbleibt - und unsere hektischen Lebensumstände sind den kontemplativen Stimmungen nicht förderlich - dann wird das Üben zur Qual.
Ein Unterricht hilft auf jeden Fall weiter, denn autodidaktisch kommt man mit diesem Instrument und seinen multiplen Möglichkeiten doch nicht ganz zurecht. Aber gerade der Unterricht kann zu einer besonders exquisiten Quelle der Angst werden, wie viele ehemalige Klavierschüler und Klavierschülerinnen aus leidvoller Erinnerung wissen.
Auch wenn es immer inspirierende Lehrerinnen und Lehrer gegeben hat (und heute wahrscheinlich öfter gibt als früher), kam es häufig zu jenen "Klavierstunden"-Tragödien, die vielen Menschen die Lust an der Musik verdorben haben. "Hast du den Kuhlau geübt?" "Ja." "Spiel vor!" - ."Nicht gut, drei Fehler, nächste Woche nochmal." Wenn in diesem Sado-Maso-Stil unterrichtet wird, ist es kein Wunder, dass der verschreckte Schüler, die verzweifelte Schülerin in der nächsten Stunde genau dieselben drei Fehler wieder macht. Damit genug von diesem beklagenswerten Thema. Zum Glück ist ja das Klavier auch ein Lustobjekt.
Johannes Heesters sang seinerzeit die verführerischen Verse: "Man müsste Klavier spielen können, / Wer Klavier spielt, hat Glück bei den Fraun, / Denn nur er kann mit Tönen / Den lauschenden Schönen / Ein Luftschloss der Liebe erbau’n." Und Friedrich Schiller, der mit Heesters sonst wenig gemein hat, schwärmte in seiner Ode "Laura am Klavier" eine Frau an, die musizierte und sich dabei von einem Bewunderer beobachten ließ: "Wenn dein Finger durch die Saiten meistert, / Laura, jetzt zur Statue entgeistert, / Jetzt entkörpert steh’ ich da."
Das Spiel der Finger
Wenn ein "Finger durch die Saiten meistert", dann berührt er den zarten Zusammenhang zwischen Klavierspiel und Erotik. Heesters’ Klavierspieler hatte Glück bei den Frauen, Schillers Laura bei den Männern. Und Mozart, der vom Klavierspielen (und vielleicht auch von der Erotik) mehr verstand als Schiller oder Heesters, komponierte seine vierhändigen Stücke gerne so, dass die zwei Spieler (welchen Geschlechts sie auch sein mögen) Hände und Arme zuweilen überkreuzen müssen oder dürfen. So ergeben sich im gemeinsamen Spiel delikate Hautkontakte.
Aber davon abgesehen ist ja das Streicheln jener 88 weißen und schwarzen Tasten, wie sie animierend genug genannt werden, selbst schon ein Akt der sinnlichen Berührung (es muss nicht immer ein "Anschlag" sein!) Zwischen der Fingerspitze und der Taste geschieht beim Spielen etwas sehr Intimes, und je intensiver sich der Spieler darauf einlässt, desto feiner wird sein Fingerspitzengefühl werden, und desto reicher wird der Ton sein, den ihm das Klavier zurückgibt. Wenn der Hammer die Saite einmal getroffen hat, kann man den Ton zwar nicht mehr verändern. Ein Vibrato, wie auf der Geige, gibt es auf dem Klavier nicht. Aber trotzdem bieten sich unendlich viele Möglichkeiten, die Tonqualität zu beeinflussen.
Gefühl und Kunst
Eine schöne Beschreibung dieser Möglichkeiten findet sich in dem alten Lehrbuch "Die Kunst des Klavierspiels" von Heinrich Neuhaus. Dieser russische Pianist deutscher Herkunft war ein großer Könner auf dem Klavier, vor allem aber war er ein höchst erfolgreicher Lehrer am Moskauer Konservatorium, der eine ganze Generation russischer Großmeister ausgebildet hat: Svjatoslav Richter, Emil Gilels und viele andere haben bei ihm die Kunst des Klavierspiels gelernt.
Dieser sachkundige Mann schreibt also, dass man schon "mit dem herrlichen Einzelton des Klaviers" alleine "alle nur möglichen Gefühlsschattierungen" ausdrücken könne: "Zärtlichkeit, Kühnheit, Zorn, das Skrjabinsche ‚estatico‘, Einsamkeit, Trauer und viele, viele andere." Das klingt verlockend. Aber Neuhaus wäre kein Musiker und kein Lehrer, wenn er nicht hinzufügen würde, dass man diese Nuancen nur dann zu realisieren vermag, wenn man darin eine "interessante technische Aufgabe" erkennt, die es durch Arbeit zu lösen gilt.
Das ist ein Gedanke, der zum Weiterdenken übers Klavierspielen hinaus anregt. Die Musik verwirklicht sich ja immer in disziplinierter Technik, erreicht aber dabei zugleich Bezirke der Seele, in denen es ganz ungeregelt zugeht. Eine Modulation aus einer Dur-Tonart in die parallele Molltonart kann restlos in den analytischen Begriffen der Harmonielehre beschrieben werden - aber wenn sie in einem Musikstück an der richtigen Stelle auftaucht, rührt sie die Zuhörerschaft zu Tränen. Und keiner der Weinenden muss wissen, was eine "parallele Molltonart" ist. Die Musiker freilich wissen es. Aber sie sollen ja auch nicht weinen, sondern spielen - so gut sie eben können.
Hermann Schlösser, geboren 1953, Redakteur des "extra" der "Wiener Zeitung", ist seit seinem 12. Lebensjahr ein heiter dilettierender Klavierspieler.
Literaturempfehlungen
Heinrich Neuhaus: Die Kunst der Klavierspiels. Aus dem Russischen von Lothar Fahlbusch, Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1993.
Dieter Hildebrandt: Pianoforte. Der Roman des Klaviers. Hanser Verlag, München 1985.