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Ein Koffer in Wien

Von Thomas Seifert

Leitartikel
Thomas Seifert.

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Um amtlicherseits als Österreicher anerkannt zu werden, braucht man einen Staatsbürgerschaftsnachweis oder Reisepass. Wiener wird man per Deklaration. Man zieht in die Stadt, stellt den Koffer in eine Ecke und erklärt: "Ich bin jetzt Wiener." Nationalstaaten sind klar abgegrenzte Gebilde, Städte sind offene Systeme.

Der Gegensatz zwischen Stadt und Land entwickelt sich langsam aber sicher zur zentralen Bruchlinie moderner Gesellschaften. Das war nicht immer so. Früher hieß es: Proletariat gegen Kapital, Agrargesellschaft vs. Industriegesellschaft. Doch die Deindustrialisierung der vergangenen Jahrzehnte hat das Proletariat dahinschrumpfen lassen - in Österreich sind gerade noch 16,6 Prozent der Beschäftigten in der Industrie tätig und die Landwirtschaft leistet heute einen geradezu verschwindenden Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt. Realkapitalisten - nennen wir sie Unternehmer - stehen Finanzkapitalisten zusehens misstrauisch gegenüber.

Im postindustriellen Zeitalter ist Wertschöpfung eng mit Know-how, Kreativität und Wissen verknüpft. Kreativität findet man dort, wo weltoffene Menschen bereit sind, sich jeden Tag mit neuen Ideen auseinanderzusetzen und sich auf Experimente aller Art einzulassen. Wissen wird dort geschöpft, wo Menschen sich fachkundig über Fakten austauschen und leidenschaftlich über ihre Theorien streiten. In Städten findet man viele Hirne auf engem Raum, die unterschiedlichsten Talente, die verrückt Neues ausprobieren und mit Althergebrachtem vereinen: Presto! Ideale Voraussetzungen für Wissen und Kreativität, die beiden Hauptingredienzien von Know-how.

Städtenetzwerke, Konnektivität zwischen Metropolen und zum Umland sind für das Wohl der Städte wichtiger als enge Beziehungen in die weitere Peripherie.

Politisch entwickeln sich Stadt und Land immer weiter auseinander: Das war beim Brexit-Referendum zu beobachten, bei der US-Präsidentenwahl, bei den Präsidentenwahlen in Frankreich sowie bei der Bundestagswahl in Deutschland und der Nationalratswahl in Österreich.

Städte sind auch jene Orte, an denen soziale Konflikte anbranden und gelöst werden müssen, von sozialer Ungleichheit bis hin zur Migration. Knackige Slogans und schmissige Parolen greifen in den Metropolen nicht: Es geht um die pragmatische Problemlösung. Nationale Regierungen könnten von Bürgermeistern viel lernen.