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Ein Krieg der falschen Erwartungen

Von Wolfgang Mueller

Gastkommentare
Wolfgang Mueller ist Universitätsprofessor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien und korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften.
© privat

Nicht nur der Kreml, auch der Westen hat sich in Bezug auf die Ukraine geirrt.


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"Fünf Tote bei Unwettern in Österreich", titelte jüngst eine Tageszeitung. Die täglich dutzenden Toten in der Ukraine sind in den vergangenen Wochen aus den Schlagzeilen weitgehend verschwunden. In den bisher sechs Monaten von Russlands Angriffskrieg wurden geschätzte 80.000 bis 100.000 Menschen getötet - etwa so viele wie in drei Jahren Bosnien-Krieg. Etwa 20 Prozent des ukrainischen Territoriums sind vom Aggressor besetzt. Mehr als 25.000 vermutete Kriegsverbrechen wie Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung Lebender und gezielte Ermordung von Zivilpersonen und Gefangenen werden untersucht. Etwa zehn Millionen Menschen wurden vertrieben, tausende verschleppt.

Die materiellen Schäden werden auf mehrere hundert Milliarden Euro geschätzt. Kulturgüter und Teile der Ernte wurden vernichtet. Da die ukrainische Landwirtschaft im Frieden mehr als 100 Millionen Menschen ernährte, drohen Hungersnöte in vielen Staaten der Erde. Es ist ein Krieg enormer Bestialität. Es ist ein Krieg, dessen Ausgang die Zukunft Europas maßgeblich beeinflussen wird. Und es ist ein Krieg der falschen Erwartungen.

Ein Eroberungskrieg, mit dem kaum jemand rechnete

Dies betrifft erstens die Annahme, dass ein solcher Eroberungskrieg in Europa nicht mehr möglich sei. Dass die 2014 begonnene Aggression Russlands in eine offene Invasion münden würde, haben nur wenige angenommen. Russland selbst leugnete derartige Absichten bis zuletzt. Westliche Staaten versuchten, die Invasion durch Appeasement zu verhindern, was sich ebenfalls als verfehlt erwiesen hat. Die Verweigerung militärischer Unterstützung für die Ukraine reduzierte lediglich das Risiko für den Aggressor und erhöhte damit die Kriegsgefahr.

Der ukrainische Widerstand ist stärker als gedacht

Die zweite Fehleinschätzung betrifft den Kriegsverlauf. Auf dem Papier sind die Streitkräfte Russlands personell fünfmal, in einigen Waffengattungen zehnmal stärker als jene der Ukraine. Das Land selbst wurde oft als in einen prowestlichen und einen prorussischen Teil gespalten dargestellt. Angreifer wie Beobachter gingen daher von einer Kriegsdauer von wenigen Tagen aus. Tatsächlich blieben Armee, Behörden, Bevölkerung aber überwiegend loyal und leisten Widerstand. Dem Mythos vom "Separatismus" im Donbass zum Trotz befürworteten selbst dort im Jahr 2014 kaum 17 Prozent eine Abspaltung. So ist es der Ukraine bisher gelungen, hunderte Angriffe abzuwehren und ihre Freiheit zu verteidigen; Russland hat seine Kriegsziele wie den Sturz der Regierung und die Eroberung des Donbass deutlich verfehlt.

Das sollte freilich nicht zum Trugschluss führen, der Krieg sei "gelaufen" und die Ukraine in Sicherheit - im Gegenteil. Laut dem Militärexperten Oberst Markus Reisner fehlt es der Ukraine nicht am Willen, sich zu verteidigen, aber an Waffen. Daher rückt der Angriff ungebrochen weiter vor, sterben täglich dutzende Menschen.

Der Kreml unterschätzte die westliche Unterstützung

Drittens war die Erwartung des Kreml unzutreffend, der Westen werde wie 2014 mit eher symbolischen Gesten reagieren. Das Klischee vom zerstrittenen, dem Untergang geweihten Westen ist im von Präsident Wladimir Putin geschätzten russischen Denken des 19. Jahrhunderts und der Sowjetunion weit verbreitet. Im Gegensatz zu dieser Erwartung haben 141 Staaten den Angriff verurteilt, 40 unterstützen die Ukraine - die meisten in der Erkenntnis, dass ein Erfolg der russischen Aggression verheerende Auswirkungen auf die zukünftige internationale Sicherheit insbesondere Europas hätte. Die von EU- und Nato-Staaten zur Eindämmung der Aggression verhängten Sanktionen haben in Russland eine Rezession und Engpässe bei Technologie und Devisen, aber auch Gegenmaßnahmen hervorgerufen. Mittelfristig erwarten Ökonomen schwere Krisenmerkmale in Russland und geringere im Westen.

Der Westen kann sich nicht aus dem Krieg heraushalten

Viertens hat sich die Erwartung einiger im Westen, ihre Staaten könnten oder sollten sich aus dem Konflikt heraushalten, als unhaltbar erwiesen. Zum einen sind die Staaten Europas an der Aufrechterhaltung der Sicherheit und daher an der Zurückweisung des Angriffs interessiert. Zum anderen wird in Russland seit Jahren der Westen als Hauptgegner, die Ukraine nur als Marionette präsentiert. Heute werden im russischen Staatsfernsehen westliche Gesellschaften zu Feindbildern gemacht, ihre Vertreter als "Bastarde" bezeichnet oder gar zur Hinrichtung (!) vorgeschlagen, ihre Staaten mit Atomschlägen oder Invasion bedroht. Vieles ist Theaterdonner; dennoch geht es am politischen Klima nicht spurlos vorüber.

Der von Russland aufgenommene Wirtschaftskrieg gegen Europa verfolgt das politische Ziel, den Kontinent durch steigende Energiepreise zu destabilisieren, bis die EU - in den Worten eines russischen Ökonomen - "einknickt". Seit Kriegsbeginn haben EU-Staaten für Energielieferungen an Russland 85 Milliarden Euro gezahlt. Damit finanzieren sie etwa die Hälfte von Putins Kriegsausgaben, was ihren eigenen Interessen widerspricht, wenn sie die Aggression eindämmen wollen. Während Deutschland seine Gasimporte aus Russland bereits signifikant reduziert hat, hinkt Österreich nach. Es ist verständlich, dass Menschen im Westen um ihren Wohlstand besorgt sind. Um einen Gegensatz zwischen militärischer und wirtschaftlicher Sicherheit zu vermeiden, gilt es, einen Ausgleich zu schaffen - für Energielieferungen und für Einbußen.

Der Westen überschätzte die Wirkung der Sanktionen

Fünftens war die westeuropäische Erwartung, Russland mit Wirtschaftssanktionen rasch zum Einlenken zu bewegen, zu optimistisch. Zögerten westeuropäische Regierungen in den ersten Kriegstagen mit der Lieferung schwerer Waffen, hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass es ohne diese kaum möglich ist, den Aggressor abzuwehren, Frieden wiederherzustellen und Freiheit zu gewährleisten. Etwa 56 Prozent der Hilfe für die Ukraine leisten die USA, gefolgt von EU, Großbritannien, Deutschland, Kanada und Polen. Österreich liegt auf Rang 27, weit hinter Litauen und der Slowakei. Bei der Militärhilfe leisten die USA 65 Prozent. Im Verhältnis zum BIP helfen die baltischen Staaten, Polen, die Slowakei, Tschechien und Griechenland am meisten.

Vergleicht man das BIP der Koalition, die den Verteidiger unterstützt, mit jenem des Aggressors, ist das Potenzial einer erfolgreichen Abwehr der Aggression offenkundig. Aber das Ergebnis hängt von vielen Faktoren, insbesondere der Hilfsbereitschaft des Westens und seiner Fähigkeit, Energieabhängigkeiten zu substituieren, ab. Jedenfalls genügt das derzeitige Hilfsniveau laut Militärexperten nicht, eine vollständige Abwehr des Angriffes und damit die Wiederherstellung von Frieden, die Bewahrung von Freiheit auf unserem Kontinent und damit die Festigung unser aller Sicherheit zu erreichen. Die Annahme mancher, den Krieg ignorieren zu können, und dann werde schon alles wieder gut, wird sich nicht bewahrheiten.