80 Prozent der Bevölkerung lebt in Armut. Viele greifen zu drastischen Mitteln, um an ihre Ersparnisse zu kommen.
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Sali hat es getan. Aber auch Cynthia und Georges. Eine Innenarchitektin, eine Parlamentsabgeordnete, ein pensionierter Diplomat. Ihnen gingen rund ein Dutzend voran, viele andere könnten es ihnen gleichtun. Sie alle haben ihre eigenen Ersparnisse aus den Banken geholt, mit vorgehaltener Pistole, durch Sitzstreik oder Geiselnahme.
In einem Land am Abgrund gilt die Hauptsorge der Libanesen der Verfügbarkeit über ihr Bargeld, das seit drei Jahren um über 95 Prozent abgewertet wurde. Mittlerweile konkurrieren mehrere inoffizielle Wechselkurse. Auf dem Schwarzmarkt kostet ein Dollar mitunter 38.000 Lira, die außerhalb des Landes als Pfund bezeichnet wird. Seit dem 1. November gilt ein neuer offizieller Wechselkurs. Es ist ein Schritt zur Vereinheitlichung und eine "notwendige Korrekturmaßnahme", hieß es aus dem Finanzministerium. Doch es brauche noch Zeit, bis der Beschluss auch umgesetzt werden könne.
Ersparnisse eingefroren
Der Libanon zählt zu den weltweit am stärksten verschuldeten Staaten. Mit 167 Prozent ist die Inflation 2022 die dritthöchste, nach Venezuela und dem Sudan. Sie liegt für Lebensmittel sogar bei mehr als 200 Prozent. Der Zusammenbruch der Banken, der durch ausbleibende Investoren und nicht gedeckte Schulden ausgelöst wurde, führte zahlreiche Menschen an den Abgrund: Die Staatsanwaltschaft fror kurzerhand über Nacht sämtliche Guthaben von 20 Banken ein. Betroffen sind auch Fremdwährungen. Es werden im Höchstfall an Sparer nur wenige hundert Dollar pro Monat ausgezahlt. Die nie per Gesetz legalisierte Kapitalkontrolle betrifft alle, den Institutschef, den Verwaltungsrat und den normalen Bürger, also den Mittelstand, sofern dieser noch nicht in die Armut abgerutscht ist.
Dazu gehört auch die 28-jährige Sali Hafiz. Sie flüchtete zunächst, stellte sich aber danach der Polizei, musste eine Geldstrafe bezahlen und wurde mit einem halbjährlichen Ausreiseverbot bestraft. Sie hatte sich erst vor kurzem in den Medien zu Wort gemeldet und darauf gepocht, dass sie keine Kriminelle sei. Sie habe keinen Cent mehr als die gesamten Ersparnisse ihrer Familie, 13.000 US-Dollar, mit vorgehaltener Waffe erzwungen. Ihre krebskranke Schwester habe eine Behandlung gebraucht, sie haben ihr nicht tatenlos beim Sterben zusehen können. Erst als die Bank sich weigerte, die Gelder bereitzustellen, habe sie beschlossen zu handeln. Gegenüber der Agentur Reuters sagte sie: "Wir laben in einem Land der Mafia. Wenn Sie kein Wolf sind, werden die Wölfe Sie mit Sicherheit fressen."
Ohne Staatschef und Regierung
Dramatische Worte für die Lage fand auch der formell am Montag um Mitternacht aus dem Amt geschiedene Präsident Michel Aoun. "Es endet eine Phase und eine weitere beginnt." Anstrengungen und Arbeit seien gefordert, damit der Libanon nicht in ein Verfassungschaos mit unvorhersehbaren Folgen abgleite. Für ihn ist kein wirklicher Nachfolger in Sicht, die zerstrittenen Fraktionen im Parlament konnten sich auch in mehreren Anläufen auf keinen Kandidaten einigen. Einen Tag vor Ende seiner sechsjährigen Amtszeit hat der 89-Jährige noch ein Dekret unterzeichnet, mit dem die geschäftsführende Regierung von Ministerpräsident Najib Mikati zurücktrat. Nun ist die Situation beispiellos mit sowohl einer vakanten Präsidentschaft als auch einem geschäftsführenden Kabinett mit begrenzten Befugnissen.
An dieser Pattsituation ändert auch der verhaltene Optimismus über die Abwicklung des Vertrags zur Seegrenze des Libanon zu Israel nichts. In seiner letzten Woche als Präsident unterzeichnete Aoun diesen von den USA vermittelten Vertrag. Der Durchbruch gilt als historisch, ist aber nur ein Hoffnungsschimmer. Ermöglicht wurde, dass beide Länder Erdgas aus Meeresvorkommen fördern können. Die mächtige, vom Iran unterstützte bewaffnete Gruppe Hisbollah habe laut Aoun dazu beigetragen, die Verhandlungen am Laufen zu halten. Nun sei der Weg geebnet für die "letzte Chance" des Libanon, sich von der Finanzkrise zu erholen. Nichtsdestotrotz kann es Jahre dauern, bis der Rohstoff exportiert werden kann.
Schwacher Staat
Kurzfristig ist also mit einer politischen Entspannung nicht zu rechnen. Weder außenpolitisch - die Beziehungen zwischen Israel und dem Libanon bleiben angespannt, formell befinden sie sich noch im Krieg - noch innenpolitisch: Grundsätzlich existiert das fragile Machtgleichgewicht seit dem Bürgerkrieg (1975 bis 1990).
Die Politik ist geprägt von einem schwachen Staat, in dem sich Christen, Sunniten und Schiiten die wichtigsten Posten aufteilen. Überaus einflussreich ist die schiitische Hisbollah samt eigener Miliz. Politik, Wirtschaft und Finanzwesen sind eng miteinander verflochten. Wenige mächtige Clans sichern sich Geld, Gunst und Posten. Laut einer aktuellen Studie der Vereinten Nationen für Westasien ist die Ungleichheit im Libanon besonders auffallend: Die oberen 10 Prozent verfügen über 70 Prozent des Reichtums und agieren abgehoben von Gesetz und Bevölkerung in einem riesigen Machtvakuum.
In den Köpfen vieler Libanesen ist die sechsjährige Amtszeit von Aoun mit den schlimmsten Tagen des Landes verknüpft: Der Finanzkrise, die 2019 begann, und die Hafenexplosion 2020. Zehntausende zogen auf die Straße: gegen die weitverbreitete Korruption, Kostenerhöhungen im öffentlichen Dienst und Energiesektor sowie gegen Steuern auf Telefondienste. Kurz: gegen die lukrativen monopolisierten Wirtschaftszweige. Gewaltigen Zündstoff barg die Explosion in Beirut am 4. August 2020.
Weite Teile des Hafens wurden zerstört und große Schäden in der Stadt verursacht. Mindestens 207 Menschen wurden getötet, mehr als 6.500 verletzt. Hunderttausende mussten ihre Wohnungen verlassen. Ein Getreidespeicher samt Vorräten wurde vernichtet. Knapp eine Woche nach der Katastrophe trat die Regierung zurück. Ihr wurde Fahrlässigkeit vorgeworfen. Zynischerweise stürzte zwei Jahre später am exakt gleichen Tag eine Ruine des Getreidesilos in sich zusammen. Die Folgeregierung kann bislang keine Erkenntnisse über das Desaster bieten.
Keine Hilfe ohne Reformen
Angesichts dessen werden Beobachter in ihrem Zweifel bestärkt, ob die Regierung überhaupt willens ist, Taten zu setzen. Das Mittelmeerland hat noch keine einzige Forderung - unter anderem hinsichtlich der Zentralbank - umsetzen können. Potenzielle ausländische Geldgeber wie der Internationale Währungsfonds (IWF) fordern im Gegenzug für eine Finanzhilfe handfeste Reformen. Denn ohne Neuerungen, die nur eine handlungsfähige Regierung vorantreiben kann, gibt es keine Hilfe aus dem Westen.
"Der Staat muss funktionieren", sagte etwa Frankreichs Außenministerin Catherine Colonna bei einem Besuch in Beirut. Sie rief zu einer unverzüglichen Kurskorrektur auf. Ebenso schonungslos hatte Anfang des Jahres die Weltbank in einer Erklärung über die Krise im Libanon geurteilt. Die Misere sei von der Elite im Land und den etablierten Regierungsparteien herbeigeführt worden. Diese haben "den Staat seit langem im Griff" und leben "von dessen Ressourcen". Die Weltbank forderte umgehend politische Verantwortung ein.
Tatsächlich aber geht es im Alltag ums Überleben. Die pure Verzweiflung beginnt im Libanon schon mit dem Kampf und eine tägliche Mahlzeit. Brot ist seit dem Lieferstopp von Getreide aus der Ukraine zu einem Luxusgut geworden, es kann am Schwarzmarkt zum doppelten Preis gekauft werden oder mit viel Glück nach langem Anstellen vor den Bäckereien.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen schätzt, dass 46 Prozent der Haushalte nicht genug zu essen haben. Die Krise setzt sich bei der Strom- und Wasserversorgung fort. Viele haben sich gezwungenermaßen dafür entschieden, ohne Strom zu leben, um sich ernähren zu können, oder aber in vielen Fällen - sich das eigene Geld zurückzuholen. Jene, die diese Verzweiflungstat begehen, werden von einer breiten Masse angefeuert. Die Unvorhersehbarkeit von sozialem Ungehorsam könnte schon ein Vorbote eines bevorstehenden Kollapses sein. Ein mögliches Ergebnis nach jahrzehntelangem Krieg, Besatzung und politischen Fehden. Die Libanesen haben nicht mehr die Geduld, die Krisen zu ertragen.
Gesetze des Dschungels
Deswegen bleiben auch vermeintliche Volkshelden wie Sali, Cynthia und Georges im Gedächtnis der Bevölkerung haften. Menschen wie die Architektin Hafiz, die als erste Frau Diebin wurde, in einer patriarchalischen Gesellschaft, in der die Stimme einer Frau nicht gehört wird. Die Politikerin Zarazir, die sich als normale Bürgerin und nicht als Parteiunabhängige ihr Geld für eine dringende Operation holte. Oder Georges Siam, Honorarkonsul in Irland. Er forderte in einer Erklärung von der Regierung: "Entweder finden Sie eine Lösung für das Problem der Einleger und beginnen, einen Teil zu zahlen, oder wir setzen unseren offenen Krieg gegen Euch Diebe fort." Mittlerweile bündeln sie ihre Stimme in der Interessensvertretung der Einleger. Auch das Syndikat der Bankangestellten spricht von irregeleiteter Wut gegen Kreditinstitute, denn eigentlich trage der Staat die Hauptschuld an der Krise.
Gegenseitige Schuldzuweisungen und eine zunehmende Polarisierung schüren die Spannungen. Verschlimmert wird die Lage durch das Zögern der Elite. Es verschleiert zudem den Blick auf das eigentliche Symptom: Menschen müssen tragischerweise proaktiv ihre sich verschlechternde Lebenssituation in die Hand nehmen- oder aber leiden oder sterben schweigend. Libanesische Familien stehen mit dem Rücken zur Wand.