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Ein Land im freien Fall

Von Gerhard Lechner und Michael Schmölzer

Politik

Griechenland hängt am Tropf internationaler Geldgeber. Experten warnen: Das dicke Ende kommt noch.


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Wien/Athen. Vom "Sargnagel der EU" war im Sommer 2015 die Rede. Gemeint war Griechenland, die astronomisch hohe Verschuldung der Hellenen und der Weigerung der Regierung Alexis Tsipras, die Bedingungen für ein Rettungsprogramm zu akzeptieren. Athen musste schließlich kapitulieren und bekommt jetzt regelmäßig hohe Milliardenbeträge aus der EU überwiesen.

Im Gegenzug muss ein rigides Sparprogramm umgesetzt werden. Steuern werden erhöht, Leistungen gestrichen, es wird an allen Ecken und Enden privatisiert. 2018 sollen allein die Verkäufe des Telefonkonzerns OTE und des Athener Flughafens 3,5 Milliarden Euro einbringen.

Griechenland ist fügsam, was bei den Geberländern wohlwollend zur Kenntnis genommen wird. So meinte der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble am Dienstag, dass man das vor acht Jahren eröffnete Defizitverfahren gegen Griechenland beenden könne. Im Vorjahr hat das Land sogar einen Haushaltsübeschuss von 0,7 Prozent erwirtschaftet, jetzt soll Griechenland wieder an den Kapitalmarkt zurückkehren. Auch die Ratingagenturen sind zufrieden.

Soziale Katastrophe

Die ökonomischen Folgen der Sparmaßnahmen sind desaströs, darauf weist nicht nur der ehemalige griechische Finanzminister Janis Varoufakis hin. "Unser Bruttoinlandsprodukt ist niedriger denn je, wir haben mehr Bürger, die ihre Steuern nicht bezahlen können, weil ihnen das Geld dazu fehlt. Wir haben weniger Investitionen und mehr Menschen, die das Land verlassen. Es ist eine komplette Katastrophe", so der Minister zur "Wiener Zeitung".

Das war im September 2016, seitdem hat sich nichts zum Besseren gewendet. 427.000 Griechen haben ihre Heimat verlassen und Arbeit im Ausland gesucht. Seit 2013 wandern unverändert jährlich mehr als 100.000 Menschen aus. Grund für den Exodus ist eine grassierende Arbeitslosigkeit, die bei über 25 Prozent liegt. Unter jungen Menschen beträgt sie mehr als 50 Prozent. Die Mehrzahl derer, die gehen, sind gut ausgebildet. Großstadt-Griechen strömen auf die Inseln, um dort in der Tourismusbranche unterzukommen. Dort stoßen sie auf die Konkurrenz zahlloser junger Osteuropäer, die in den Hotels arbeiten und oft die erforderlichen Fremdsprachen sprechen.

1,5 Millionen Griechen leiden unter akuter Armut, sie sind auf Unterstützung wohltätiger Einrichtungen oder Verwandter angewiesen. In Athen macht sich mitten in der größten Hitzewelle pestilenzartiger Gestank breit, weil die Müllabfuhr gegen Einsparungen streikt. Der Fiskus hält sich an den Pensionisten schadlos, deren Rente seit Jahren sukzessive gekürzt wird. Ab 2019 soll es eine Reduktion um weitere 18 Prozent geben, damit 1,8 Milliarden Euro gespart werden. Nach 2010 sind die Pensionen 16 Mal reduziert worden. Streiks sind an der Tagesordnung, die Gewerkschaften ballen die Faust - geholfen hat es nichts. Verzweiflung und Lethargie machen sich breit. Nur noch 15 Prozent sind mit Premier Alexis Tsipras zufrieden, dem ehemaligen Helden des Widerstandes gegen die Sparvorhaben der internationalen Geldgeber.

Während Griechenland verarmt, profitieren - zumindest vorerst noch - die Gläubigerstaaten, etwa Deutschland. Kredite und Anleihenkäufe zugunsten Griechenlands haben dem deutschen Fiskus laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" Gewinne in der Höhe von etwa 1,34 Milliarden Euro eingebracht. Die Zahl stammte aus einer Antwort des deutschen Finanzministeriums auf eine Anfrage der Grünen im Deutschen Bundestag. Die Partei verlangt nun, dass das Geld an Griechenland ausgezahlt werden soll. Auch Österreich verdiente an der Griechenland-Hilfe, und zwar rund 300 Millionen Euro. 111 Millionen sind bisher an Zinsen an das Finanzministerium geflossen, die Nationalbank erzielte einen Erlös von 190 Millionen.

Dass die Griechenland-Hilfen für die Gläubigerstaaten ein tolles Langfrist-Investment werden, glauben freilich nur wenige. Heribert Dieter, Griechenland-Experte an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, hält die Behauptung, Deutschland habe an der Griechenland-Krise verdient, für "eine Milchmädchenrechnung erster Güte" - weil die Haftungsrisiken, die die Gläubigerstaaten eingegangen sind, dabei nicht berücksichtigt werden. "Es wird so getan, als ob die Kredite je in voller Höhe zurückgezahlt werden. Das wird nicht passieren. Die Gläubiger werden nennenswerte Ausfälle hinnehmen müssen", gibt Dieter im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" zu bedenken. "Die Ausfälle werden diesen kurzfristigen Überschuss in ein großes Defizit umkehren. Es ist so, als würde jemand aus einem Hochhaus fallen und, am sechsten Stock angelangt, sagen: Bis jetzt ist ja noch alles gut gegangen", findet der Experte ein drastisches Bild. "Es gibt nur sehr wenige Leute, die auch bei abgeschalteten Kameras noch davon ausgehen, dass Griechenland jemals seine Schulden zurückzahlen wird", sagt Dieter - und auch Mario Holzner, der stellvertretende Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsbeziehungen (WIIW), zeigt sich diesbezüglich pessimistisch. "Die Zinsen, die die Gläubigerstaaten bekommen, bieten ihnen auch eine Möglichkeit, das Geld wenigstens teilweise zurückzubekommen", sagte er der "Wiener Zeitung".

Laut Holzner und Dieter wurden im griechischen Schuldendrama in erster Linie die deutschen und französischen Banken gerettet, deren Schuldenlast dem Steuerzahler aufgebürdet worden sei. "Was dem in der Krise steckenden Süden der EU einzig helfen könnte, wäre eine Art Industrialisierungsplan", meint Holzner. Den Südstaaten von Portugal bis Bulgarien könne langfristig nur der Aufbau eines Industrietrusts helfen, etwa durch Sondererlaubnisse für Subventionierung von ausländischen Direktinvestitionen.

Dass Griechenlands möglicherweise bevorstehendes Comeback am Kapitalmarkt dem Land wirklich hilft, glaubt SWP-Experte Dieter nicht: "Da wird eine Art Laufstall inszeniert, eine Schauveranstaltung", meint er. "Kein Mensch würde sich trauen, die volle griechische Staatsschuld vom Markt bewerten zu lassen. Die Zinssätze würden nach oben schnellen, weil niemand bereit wäre, dem Land Geld zu leihen. Griechenland wäre 30 Minuten später bankrott".