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Ein Land in Bunkerstimmung

Von WZ-Korrespondent Andreas Hackl

Politik

Israel setzt seine Offensive in Gaza fort, Raketen töten auch drei Israelis.


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Jerusalem. Mit der gezielten Tötung des militanten Hamas-Führers und Kommandanten Ahmed al-Jabari im Gazastreifen hat Israel die Spielregeln der Gewalt radikal geändert. Nach vier Jahren der relativen Ruhe könnte den Menschen in Gaza und Israel nun erneut ein blutiger Krieg bevorstehen.

"Nach diesem Angriff ist jetzt nur mehr Eskalation möglich", sagt die israelische Konfliktforscherin Benadetta Berti, die seit Jahren zu bewaffneten Widerstandsbewegungen im Nahen Osten forscht. Die Ermordung Al-Jabaris habe ein bewährtes System der letzten vier Jahre beendet: Auf jede Gewalteskalation folgte oft schon nach wenigen Tagen ein Waffenstillstand. Dieser "Walzer" zwischen dem israelischen Militär und der islamistischen Hamas sei vorüber. Stattdessen droht Eskalation. Die bisherige Bilanz: mehr als hundert Angriffe des israelischen Militärs auf Ziele im Gazastreifen und rund 200 Raketen palästinensischer Milizen. Dabei wurden 15 Palästinenser getötet, darunter eine schwangere Frau und das Kleinkind eines Mitarbeiters des britischen Senders BBC, sowie drei Israelis, die nach dem Einschlag einer Rakete in der israelischen Stadt Kiryat Malachi unter den Trümmern ihres Hauses begraben wurden.

Nur wenige Stunden trennten am Mittwoch die Ruhe vom absoluten Ausnahmezustand. "Ein guter Morgen in Israel nach einer Nacht ohne Raketen", schrieb die Sprecherin des israelischen Militärs, Avital Leibovitch, noch am Morgen auf Twitter. Auch im Gazastreifen hatten sich die Menschen nach einer Nacht ohne Luftangriffe auf die ersehnte Waffenruhe eingestellt. Doch dann kam alles anders: Das Auto von Ahmed al-Jabari explodierte auf offener Straße. Die Worte des israelischen Premierministers Benjamin Netanyahu ließen nichts Gutes erahnen: "Heute schicken wir der Hamas und den anderen Terrororganisationen eine unmissverständliche Botschaft."

Sperrmauern überall

Das Attentat auf Al-Jabari wird als Wiederaufnahme einer alten israelischen Strategie gegenüber der Hamas gewertet: die Politik der gezielten Tötung. "Israel will durch Abschreckung die eigene Schlagkraft unter Beweis stellen", sagt Benadatta Berti und wertet das Umdenken Israels auch als Reaktion auf eine Trendwende der Hamas selbst. Diese hatte sich seit dem Gaza-Krieg im Winter 2008-2009 mit Angriffen auf Israel zurückgehalten, ja sogar bewusst Angriffe anderer Milizen verhindert, um Ruhe zu bewahren. "Sie hat für Israel Polizist gespielt. Das ist jetzt vorbei", sagt Berti. Die islamistische Bewegung war lange von der Zerstörung des letzten Krieges traumatisiert und geschwächt. Sie hat ohne Gewalt in der eigenen Bevölkerung und international um Anerkennung geworben. Doch seit rund zwei Monaten haben die Brigaden der Hamas wieder vermehrt Raketen nach Israel geschossen. Und das wollte Israel unterbinden.

Die Abschreckungspolitik durch militärische Machtdemonstration wird von Kritikern jedoch als kurzsichtig gewertet. Sie attestieren Israel eine Art "Bunkermentalität", die das Land und seine Politik immer mehr in den eigenen Grenzen einschließt und aggressiv gegen jegliche Bedrohungen vorgeht, anstatt sich auf die regionalen Veränderungen einzustellen. Die Umbrüche in der arabischen Welt und die wachsende regionale Bedrohung haben Teile der israelischen Politik und Bevölkerung in den Gefühlszustand der ständigen Belagerung versetzt. Der Konflikt mit den Palästinensern, die Aktivitäten der Hisbollah im Libanon, der immer näher heranrückende Bürgerkrieg in Syrien, die vom Sinai aus orchestrierten Anschläge im Süden und der gefährlich schwelende Atomstreit mit dem Iran - all das scheint vielen als Bedrohung ohne echten Ausweg.

Die Bunkermentalität ist auch an Israels Grenzen abzulesen: Im Süden des Landes wird eine Mauer gegen Angreifer und illegale Einwanderer gebaut, genauso an der Grenze zum Libanon. Und die Sperrmauer trennt seit Jahren das Westjordanland von Israel und dessen Siedlungen auf besetztem Gebiet. Einerseits will Israel damit gegen Bedrohungen von außen vorgehen. Doch gleichzeitig sperrt es sich auch selbst ein. Auf die wachsende Isolation des Landes ist nun auch die Wiederwahl von US-Präsident Barack Obama gefolgt, von dem in der zweiten Amtsperiode mehr Druck auf Israel erwartet wird. Mit der Niederlage Mitt Romneys, der einen Militärschlag gegen das iranische Atomprogramm als "letztes Mittel" nicht ausgeschlossen hatte, hat zudem die in den vergangenen Jahren aufgebaute Drohkulisse spürbar an Wirkung verloren.

Sogar die Tötung von Ahmed al-Jabari kann als Fortsetzung des israelischen Bunker-Denkens gewertet werden. Al-Jabari war zwar Kommandant der Al-Qassam-Brigaden der Hamas und damit verantwortlich für den Tod vieler Zivilisten. Auch war er der Kopf hinter der Entführung des israelischen Soldaten Gilad Shalit. Doch gleichzeitig, sagt Benadetta Berti, sei er auch derjenige gewesen, mit dem dessen Freilassung ausgehandelt wurde. Und er hat unter ägyptischer Vermittlung Waffenstillstände möglich gemacht. Mit seiner Ermordung sei diese Option nun für einige Zeit vom Tisch. Die Option, die bleibt, ist Einschüchterung des Gegners durch Waffengewalt.

Das Wort Bunker steht aber nicht nur für den Trend israelischer Sicherheitspolitik, sondern auch für das Überleben der Zivilbevölkerung. Die Flucht in den Bunker in den Sekunden nach Erklingen der Sirene ist für hunderttausende Menschen im Süden Israels in den vergangenen Tagen zur Routine geworden. Dass diese Flucht nicht immer glückt, zeigen die drei Toten. Für die Menschen im Gazastreifen gibt es selbst diese Option meist nicht.

"Ich wohne in einem neuen Wohnhaus. Bunker gibt es hier wie auch anderswo keinen", sagt der palästinensische Politologie Usama Antar, der mit seiner Familie in Gaza lebt. Nur die Funktionäre der Hamas seien im Untergrund, um nicht wie Al-Jabari aus der Luft erschossen zu werden. Dennoch feuern ihre Kämpfer Raketen von der Oberfläche ab. "Jeder Acker, jede freie Stelle, könnte als Startpunkt einer Rakete dienen", sagt Antar. Das wird auch für Zivilisten gefährlich, denn der Gazastreifen ist mit 1,6 Millionen Einwohnern auf engstem Raum eines der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt. Auch deshalb ist Usama Antar nach der gestrigen Explosion wie die meisten anderen am schnellsten Weg nach Hause gerannt. Denn niemand wusste, wo die nächste Rakete einschlägt. "Die Straßen waren komplett leer", sagt er. Abends habe man die Angriffe der israelischen Luftwaffe in jedem Stadtteil gehört. "Alles war voll mit Rauchwolken. So etwas haben wir seit 2008 nicht mehr erlebt." Der Himmel über Gaza sei Donnerstag voll von unbemannten Drohnen gewesen.

Hoffen auf Ägypten

Der Hintergrund der israelischen Operation hat für Usama Antar nichts mit Selbstverteidigung zu tun. "Palästinensisches Blut ist immer schon ein Thema im israelischen Wahlkampf gewesen", sagt er. Damit beschuldigt er, wie viele andere Palästinenser, die israelische Regierung der bewussten Eskalation, um gegenüber der Wählerschaft Stärke zu beweisen. "Aber Ägypten wird das nicht erlauben, sie werden Druck ausüben", glaubt Antar. Auf die rettende Hand des ägyptischen Präsidenten Mohamed Mursi warten die Menschen im Gazastreifen jedoch schon lange. Dieser erklärte Israels Angriffe für "inakzeptabel" und appellierte an die USA, einzugreifen. US-Präsident Barack Obama hatte jedoch am Donnerstag seine Unterstützung für Israels "Selbstverteidigung" bekräftigt.

Die jüdische Bevölkerung in Israel scheint großteils hinter der Militäroperation in Gaza zu stehen. "Jedes Land hat das Recht sich gegen Raketenangriffe zu wehren", sagt Yaniv, ein Aktivist einer rechten Studentenbewegung bei einer Demonstration in Tel Aviv. "Die Armee sollte alles tun, was nötig ist, um Ruhe zu schaffen." Gemeinsam mit einer Handvoll Aktivisten hält er vor der Uni in Tel Aviv die israelische Flagge hoch, um gegen eine Demonstration von arabischen Israelis zu protestieren. Rund 20 Prozent der israelischen Bevölkerung sind Araber, viele davon sehen sich als Palästinenser. In Israel zu leben während die Armee gegen die eigenen "Brüder" Krieg führt, sei nicht leicht, sagte die arabische Studentin Maha bei dem Protest. "Gaza ist in unserem Herzen. Es tut weh, hier in Tel Aviv zu studieren und den Krieg mit anzusehen", sagt sie.

Andere wollen um jeden Preis gegen die Hamas in Gaza vorgehen. "Letztes Mal haben wir den Job nicht fertiggemacht", sagte ein junger Soldat am Mittwochabend, kurz nachdem Israel Al-Jabari tötete. "Wir haben 2008 eine Operation durchgeführt, sind aber zu früh wieder raus. Das müssen wir jetzt nachholen." Doch die Bilanz des letzten Gaza-Krieges lässt nichts Gutes hoffen: 1400 palästinensische Tote, die meisten davon Zivilisten. Daneben 13 getötete Israelis.