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Ein Land in der Warteschleife

Von Fabian Kretschmer

Politik

Die Auseinandersetzungen um die Aufklärung des Sewol-Fährunglücks legen die südkoreanische Politik lahm. Seit mehr als drei Monaten hat das Parlament kein Gesetz mehr verabschiedet.


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Seoul. 46 Tage lang hat Kim Young-oh nichts als Wasser und Salz zu sich genommen. Tausende Passanten konnten täglich dabei zusehen, wie der 47-Jährige an seinem Protestcamp am Gwanghwamun-Platz in Seoul bis auf die Knochen abmagerte. Er wolle endlich wissen, beteuerte er in unzähligen Interviews, unter welchen Umständen seine 16-jährige Tochter bei einem Fährunglück umgekommen sei. Für sein Anliegen drückte er gar dem Papst bei dessen Korea-Besuch einen Brief in die Hand, nahm seinen Körper als Geisel und verlor mehr als zehn Kilogramm. Genützt hat es alles nichts: Auf Bitten seiner Familie hat Kim seinen Hungerstreik mittlerweile beendet. Eine Aufklärung des Fährunglücks ist noch immer nicht in Sicht.

Seit über drei Monaten lähmt die Auseinandersetzung rund um das Sewol-Unglück die Politik des Landes: Während die Oppositionspartei einen Untersuchungsausschuss unter Beteiligung der Hinterbliebenen fordert, lehnt die konservative Saenuri-Partei rund um Präsidentin Park Geun-hye dies aus verfassungsrechtlichen Bedenken ab. Dabei misstrauen die Angehörigen der Sewol-Opfer, von denen noch immer Dutzende unweit des Seouler Rathauses kampieren, der Regierung zutiefst. Sie fürchten, die Saneuri-Partei könne mögliche Verstrickungen unter den Teppich kehren und sei an einer Aufklärung über die Hintergründe der Tragödie nicht interessiert. Am Mittwoch trafen sich Vertreter beider Seiten zum Gespräch, doch auch dieses verlief wieder einmal ohne Ergebnis.

Das Fährunglück hat das Land nicht nur nachhaltig traumatisiert, sondern auch alte Wunden aufgerissen. Die politische Landschaft Südkoreas ist zutiefst gespalten, keine der beiden großen Parteien zeigt ernsthafte Kompromissbereitschaft. In den letzten Monaten haben die Abgeordneten keine ausstehenden Gesetze mehr verabschiedet, der innenpolitische Diskurs liegt praktisch lahm. Die Opposition hat mittlerweile ihren Protest auf die Straße getragen und boykottiert mit unbefristeten Sitzblockaden und Demonstrationszügen die Parlamentsarbeit. Einzelne Abgeordnete sind aus Solidarität mit den Hinterbliebenen der Sewol-Opfer in Hungerstreik getreten. Rechtsgerichtete Aktivisten verhöhnten dies, indem sie neben dem Protestcamp der Familienangehörigen symbolisch Nudelgerichte verzehrten.

Finanzminister Choi Kyung-hwan warnt bereits in einem Appell an seine Nation, dass die Wirtschaft weiter vom Kurs abkomme, würden die längst ausstehenden Reformen nicht umgehend vom Parlament auf den Weg gebracht werden. Schon jetzt ist abzusehen, dass die finanziellen Folgen des Schiffsunglücks gravierender sein werden, als noch im Juni angenommen: Laut der südkoreanischen Zentralbank haben sich die Verbraucherausgaben im Land noch immer nicht normalisiert, rund die Hälfte aller befragten Unternehmen rechnen mit stärkeren Verkaufseinbrüchen als ursprünglich erwartet. Allein die Bergungs- und Reparaturarbeiten werden umgerechnet über 300 Millionen Euro kosten, die finanzielle Entschädigung der Opfer weitere 170 Millionen.

Profitgier, Korruption und Inkompetenz

Für das konfuzianisch geprägte Südkorea wird die Aufarbeitung des Schiffsunglücks wohl noch ein langwieriger, schmerzhafter Prozess. Als am 16. April 304 Passagiere der Sewol im Gelben Meer ertranken, darunter größtenteils Schüler, zeigte sich auch die dunkle Seite einer Gesellschaft, die ihr rasantes Wirtschaftswachstum als oberste Maxime ausgerufen hat. Die Fähre war auf ihrer letzten Fahrt um das Dreifache ihrer zugelassenen Fracht überladen und nur ungenügend gesichert. Laut einem Anfang Juli veröffentlichten Bericht führte eine gefährliche Mischung aus Profitgier, Korruption und Inkompetenz der Behörden zu der Tragödie. Auch die konfuzianische Autoritätsgläubigkeit wurde nach dem Unglück debattiert, denn am meisten Menschenleben kostete wohl die Anweisung der Crew, die Passagiere mögen sich vorerst nicht von der Stelle rühren. Das Gros der 16- bis 17-Jährigen hatte dem Aufruf gehorcht.

Damals traf Präsidentin Park erst gegen Nachmittag im Katastrophenzentrum ein. Tatsua Kato, Korrespondent einer erzkonservativen japanischen Zeitung, griff Gerüchte auf, nach denen die ledige Park sich damals heimlich mit einem Ex-Berater getroffen habe. Der Journalist wurde daraufhin mit einem 14-tägigen Ausreiseverbot belegt und zweimal von der Staatsanwaltschaft vorgeladen. Sollte Kato wegen übler Nachrede verurteilt werden, drohen ihm bis zu sieben Jahre Haft.