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Ein Land zurück in Geiselhaft

Von Georg Bauer

Gastkommentare

Machtgier, Realitätsverweigerung und Inkompetenz drängen Myanmar wieder an den Abgrund.


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Fassungslosigkeit. Wut. Trauer. Verzweiflung. Angst. Das waren und sind die Reaktionen von Freunden in Myanmar, die zu uns durchdringen. In der Nacht auf den 1. Februar hat sich das Militär nach zehn Jahren des von ihm selbst initiierten "Demokratisierungsprozesses" zurück an die Macht geputscht und damit selbigen zunichtegemacht. Für die Menschen im Land bedeutet das eine Rückkehr in einen Albtraum, den sie nur allzu gut kennen, ein historisches Déjà-vu. Fast alle haben den Großteil ihres Lebens bereits unter einem brutalen, gierigen und inkompetenten Militärregime verbracht; für manch ältere Bewohner ist es bereits der vierte Militärputsch, den sie miterleben. Zahlreiche Aktivisten sitzen einmal mehr hinter Gittern.

In heimischen und internationalen Analysen liegt der Fokus oft auf großen, internationalen Playern: Was für eine Rolle spielt China? Wie werden die USA reagieren? Gewinnt der Westen oder der Osten? Analysen aus diesem Blickwinkel gehen am Kern der Sache vorbei und zeugen von wenig Kenntnis der inneren Verhältnisse in der Union Myanmar und vor allem der Streitkräfte. Gerade Letztere zu durchschauen ist auch sehr schwer, denn die Streitkräfte sind quasi ein Staat im Staat, in den man von außen kaum Einblick bekommt. Einschätzungen über Burmas Militär - inklusive vorliegender - sind also immer mit Vorsicht zu genießen. Dennoch sollen folgende grundlegende Annahmen getroffen werden:

Die Generäle sind keine rationalen Akteure - jedenfalls nicht in dem Sinne, wie wir Rationalität verstehen. Das liegt auch an ihrer kruden Wahrnehmung der Realität, wie etwa dem festen Glauben, der einzige Garant für Stabilität im Land zu sein, und ihrem Selbstverständnis als "Mutter und Vater der Nation". Ihr Handeln ist daher schwer vorhersehbar.

Dieses Handeln ist fast ausschließlich von internen Faktoren motiviert. Was die Außenwelt - ob nun China oder der Westen - davon hält, ist nebensächlich.

Das Hauptanliegen der Generäle ist Macht im Land, das sie so gestalten wollen, wie es ihrer eigenen, historisch erwachsenen nationalistischen Ideologie entspricht.

Dieser Logik und Weltsicht unterliegt auch die derzeit geltende Verfassung von 2008, die die Militärs selbst ausgearbeitet haben und die ihnen eigentlich eine mehr als komfortable Lage beschert. Sie sind keinerlei ziviler Kontrolle unterworfen, ernennen Schlüsselminister und können eifrig Geschäfte machen - und an diesen Privilegien ist durch die ihnen garantierten 25 Prozent der Sitze im Parlament auch nicht zu rütteln. Doch warum war ihnen das anscheinend nicht genug?

Hier kommt ein vierter Punkt über die Streitkräfte hinzu: Inkompetenz. Denn beim Verfassungsverfassen sind ihnen einige Schlupflöcher "passiert", die sich auch teilweise in Punkt eins - Realitätsverweigerung - gründen. Denn eine Annahme war wohl, dass sie gemeinsam mit ihrer Proxy-Partei USDP (Union Solidarity and Development Party) eine Regierung bilden könnten, selbst wenn diese eine Wahl nicht gewänne, denn sie bräuchte ja nur 25 Prozent der Sitze. Doch dabei unterschätzten die Generäle - wieder einmal - die eigene Unbeliebtheit in der Bevölkerung, die das Selbstbild der Streitkräfte nicht zu teilen bereit ist. Die Beliebtheit Aung San Suu Kyis und ihrer NLD (National League for Democracy), gepaart mit dem Mehrheitswahlrecht, macht es dem Militär damit unmöglich, wieder in die Regierung zu kommen.

Die Katastrophe aufhalten kann nur die Bevölkerung

Doch genau das scheint der Oberbefehlshaber und nunmehrige Diktator Min Aung Hlaing gewollt zu haben. Er müsste nämlich eigentlich diesen Sommer in Pension gehen, und dann müsste - wieder so ein Schlupfloch in der Verfassung - der Präsident einen neuen Oberbefehlshaber auswählen. Als nun die NLD und die von ihr besetzte Wahlkommission sich auch noch unnachgiebig zeigten gegenüber Forderungen des Militärs, angeblichen "Wahlbetrug" zu untersuchen, waren der Affront und die Demütigung wohl zu groß, und eine Machtübernahme schien die letzte Rettung des Selbstbildes zu sein.

Dabei versuchen die Generäle den Anschein einer Verfassungskonformität zu wahren, die natürlich nicht ohne gewisse Tricks funktioniert. Die Verhaftung des amtierenden Präsidenten Win Myint wegen Verstößen gegen Covid-Auflagen und von Aung San Suu Kyi wegen illegalen Besitzes von Walkie-Talkies (kein Scherz) sind nur die offensichtlichsten dieser Tricks. Jedenfalls lautet ein Szenario, dass die Generäle nun mit ihrer wiedergewonnen Allmacht die Schwächen der Verfassung zu ihren Gunsten ändern wollen. Doch ist es unwahrscheinlich, dass die NLD und die Bevölkerung sich noch einmal auf diesen Weg einlassen werden. Denn mit dem Coup haben die Generäle die von einem Großteil stets gehegte Angst, sie könnten jederzeit wieder die Macht an sich reißen, nur bestätigt. Waffen zählen, nicht Stimmen.

Dem Land drohen nun im schlimmsten Fall blutige Unruhen, eine Eskalation des seit 70 Jahren währenden Bürgerkrieges, ein ökonomischer Verfall, der die ohnehin schon am Abgrund stehende Bevölkerung hart treffen würde, und ein Verlust der Kontrolle über die Pandemie. Aus den oben genannten Gründen werden internationale Reaktionen jedweder Art daran wenig ändern; breite Sanktionen würden die Situation jedenfalls nur verschlimmern.

Die Einzigen, die den Marsch zurück in die Katastrophe aufhalten können, sind die Menschen im Land selbst. Zu Fassungslosigkeit, Wut, Trauer, Angst und Verzweiflung hat sich aber auch Entschlossenheit gesellt. Erste Aktionen zivilen Ungehorsams entstehen. Auf die Provokationen des Militärs und seiner Handlanger, auf die Straße zu gehen und gewalttätig zu werden, fallen die Leute nicht herein - zu gut kennen sie die Generäle. Stattdessen suchen sie nach neuen Protestformen, übernehmen Strategien und Kommunikationsformen aus anderen Ländern. Sie in genau diesem Kampf zu unterstützen, ihnen Mut zu machen und Solidarität zu zeigen, ist also der sinnvollste Weg, einen kleinen Beitrag von außen zu leisten.