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Kiew und die aufständischen Gebiete im Osten entfernen sich zunehmend voneinander.
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Kiew/Donezk. Prospekt Iljitscha, Zentrum von Donezk. Ein Panzer rollt dieser grauen Novembertage mitten durch die ostukrainische Stadt, die Ampel springt auf Rot, er bleibt stehen. Es wird Grün, er fährt wieder los. "Da staunten sie nicht schlecht", schreibt Larisa, eine Bewohnerin Donezk, auf Facebook über die Reaktion der anderen Verkehrsteilnehmer. "Auch das ist Donezk heute." Larisa postet täglich Szenen aus dem Alltag der krisengeschüttelten Stadt. Wenige Tage davor berichtete sie über die Wiedereröffnung des Nachtklubs "Siebter Himmel", der sich ungeachtet der Ausgangssperre ab 22 Uhr Kunden erfreut. Laut Betreiber hätten noch keine Gäste über Probleme bei der Heimfahrt in der Nacht berichtet. Sollte sich jemand dafür entscheiden, dorthin zu gehen, solle er ihr doch über die "Erfahrungen eines Gelages, während wir Krieg haben, berichten", bittet Larisa.
Keine Gebietsveränderungen
Jura aus Donezk wiederum berichtet im Gespräch mit der "Wiener Zeitung", dass es die vergangenen Tage wieder etwas ruhiger geworden sei. Die durch die Kämpfe bereits ziemlich ramponierte Stadt sei zwar weiter unter Beschuss, aber das zumeist nur nachts. "Mir scheint, es hat keiner mehr wirklich Lust, zu kämpfen", sagt er. Man bekommt den Eindruck, als würden die Seiten nur mehr symbolisch Schüsse abgeben - wenn dabei nicht weiter durch sie Zivilisten umkommen würden. Beide Parteien scheinen nun vor allem daran interessiert, ihre Territorien abzusichern. Auch die "Betreiber" der Checkpoints hätten sich lange nicht mehr geändert, sagt Jura, der regelmäßig durch die Region fährt. Jeder wisse inzwischen, wo die ukrainische Armee stehe und wo die "Volksrepublik Donezk".
Seit den - von internationaler Seite nicht anerkannten - "Präsidentschaftswahlen" in den aufständischen Gebieten würde die Bevölkerung die Führung der Aufständischen "ernster nehmen", erzählt Jura. Auch wenn er wisse, dass die Wahlen von vielen Seiten als illegitim betrachtet würden, so wüssten doch die Menschen vor Ort, dass viele Bewohner daran teilgenommen hätten. Das habe ihn selbst überrascht.
Kiew interessiert "kein bisschen"
Man hört seiner Stimme an, dass er müde ist. Natürlich rege es ihn auf, dass seine Frau wie seine Mutter nun keine Pension mehr erhalten würden, weil Kiew die Zahlungen eingestellt hat. Es gebe aber Menschen, die bedürftiger seien als sie, daher hat er sich noch nicht an die "Volksrepublik Donezk" gewandt, um Unterstützung zu erhalten. Diese bestreitet nach eigenen Angaben inzwischen mit russischem Geld Ausgaben wie Pensionen und städtische Dienste.
Dass in Kiew am gestrigen Donnerstag das neue Parlament erstmals zusammentrat, interessiere ihn "nicht ein bisschen". Vielmehr kämpfe er mit ständigen Strom- und Wasserausfällen und Löchern in seinen Autofensterscheiben durch Granatsplitter.
Aber auch in Kiew scheinen die Menschen und das Leben in den "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk in den Hintergrund zu rücken. "Ein großer Teil ist weiter dafür, dass versucht wird, die verlorenen Gebiete zurückzugewinnen", sagt Andrij, ein Journalist aus Kiew. Er merke aber, dass immer mehr Menschen der Konflikt immer gleichgültiger werde. Nicht nur, weil man des Kampfgeschehens bereits müde sei. Sondern auch, weil durchaus "das Gefühl herrscht, dass die aufständischen Gebiete bereits ein anderes Land sind."
Dass der Kampf um den Osten in der Restukraine in den Hintergrund rückt, daran sei vor allem die wirtschaftliche Misere schuld. "Wir alle merken, um wie viel wir ärmer werden", sagt Andrij. Das beschäftige die Menschen mehr als das Geschehen in Donezk oder Luhansk, ja sogar mehr als die Sehnsucht nach demokratischen Reformen.
Freie Sitze im Parlament
Auch das neue Parlament in Kiew, durchsetzt mit prominenten Sängern, Kriegshelden, Ultranationalisten und sogar dem Sohn des amtieren Präsidenten Petro Petroschenko, Alexej, schien sich bei seiner ersten Sitzung am Donnerstag mehr mit sich selbst zu beschäftigen. Es wählte erwartungsgemäß Arsenij Jazenjuk erneut zum Premier. An die umkämpften Gebiete im Osten erinnerten lediglich eine Schweigeminute für die getöteten Soldaten und die 32 frei gebliebenen Sitze im Parlament, für Abgeordnete der Krim und aus den umkämpften Gebieten reserviert waren. Mit dem ersten Schnee, der im Osten wie in Kiew bereits fiel, scheint auch der Konflikt einzufrieren.