Die überraschende Bekanntmachung von Mullah Omars Tod hat die Taliban in Aufruhr versetzt. Die Friedensgespräche, die die afghanische Regierung so dringend will, sind vorerst vom Tisch.
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Kabul/Wien.Massoud sitzt im Halbdunkel, er streicht sich angestrengt über die Stirn. Links von ihm flimmern mehrere Bildschirme in Schwarz-Weiß, sie übertragen Bilder der zahlreichen Überwachungskameras außen am Gebäude. Bereits am Vormittag wurde er, der für die afghanische Regierung arbeitet, aus Sicherheitsgründen in ein Safe House gebracht. Denn um ein Uhr morgens hatte eine massive Explosion eines mit Sprengstoff beladenen Lkw in einem Wohngebiet in Kabul das Notfall-Protokoll in Gang gesetzt. Die Detonation war derart stark, dass sie einen zehn Meter tiefen Krater in die Straße riss.
Doch es sollte nicht der einzige Angriff auf die Stadt bleiben, der Massoud im Safe House hielt. Am Abend wurde eine Polizeiakademie attackiert - und noch vor Mitternacht erschütterte eine dritte gewaltige Bombe die afghanische Hauptstadt. Sie galt Camp Integrity, einer US-Militärbasis. Mehr als 60 Menschenleben forderten die Angriffe, hunderte Personen wurden verletzt an diesem für Kabul so schwarzen 7. August. Es waren die schwersten Attacken in der Hauptstadt seit vier Jahren.
"Meine Freunde gehen, einer nach dem anderen", schreibt Massoud via Chat. Reden will er nicht, er sei zu traurig. Er schickt ein Foto von einem jungen Mann, zwei Einschüsse in den Bauch sind zu sehen. Die genauen Umstände des Todes seines Freundes will er nicht erläutern. Massoud hat kürzlich einen Job im Ausland angeboten bekommen. Jetzt aber will er ablehnen. "Ich glaube nicht, dass ich gehe", sagt er. "Ich will hierbleiben und diese Mistkerle bekämpfen." Mit "Mistkerlen" meint er die Taliban.
Dabei hatte ein Ereignis genau einen Monat vor dem 7. August so manchen afghanischen Regierungsbeamten hoffen lassen. Hoffen darauf, dass der seit mehr als drei Jahrzehnten andauernde Krieg in Afghanistan vielleicht doch endlich ein Ende finden könnte. Dieser winzige Keim an Zuversicht rührte aus einem Treffen, das gut 500 Kilometer weiter östlich, im benachbarten Pakistan stattfand. In Murree saßen sie plötzlich an einem Tisch: Vertreter der afghanischen Taliban gegenüber Vertretern der afghanischen Regierung. An einem anderen Tischende als Beobachter Repräsentanten von Pakistan und ihnen gegenüber Diplomaten aus den USA und China. Über die Inhalte der Gespräche ist wenig bekannt. Öffentlich wurde aber, dass man sich auf ein weiteres Treffen für den 31. Juli einigte.
Neuer Taliban-Chef muss auf dem Schlachtfeld Stärke zeigen
Dazu kam es aber nicht. Die Taliban sagten kurzerhand ab, nachdem drei Tage davor der Tod des Taliban-Führers Mullah Omar bekannt wurde. Dieser war ohnehin bereits mehr als zwei Jahre zuvor verschieden. Die Nachricht aber wühlte die islamistische Bewegung auf. Mullah Omars Vize Mullah Akhtar Mansour ließ sich zwar zwei Tage später zum neuen Chef der Taliban ernennen. Ihm verweigern aber mehrere hochrangige Taliban die Gefolgschaft. Sie sind entweder nicht zufrieden mit der Art, wie er gewählt wurde (von zu wenigen Vertretern der Taliban und religiösen Gelehrten), oder dass seine Wahl auf pakistanischem Boden stattfand. Immerhin soll Al-Kaida-Chef Ayman al-Zawahiri im Namen des Terrornetzwerks Mansour die Treue geschworen haben. Dennoch wird seit der Todeserklärung Omars von einer "Führungskrise" unter den Taliban gesprochen.
Umso verwunderlicher scheint auf den ersten Blick daher die massive Angriffswelle in den vergangenen sieben Tagen. Dem Dreifach-Angriff in Kabul folgte ein Selbstmordattentat in Kunduz mit 22 Toten, zwei Tage später eines auf den Flughafen Kabul mit fünf Toten, am Donnerstag starben mindestens neun Polizisten in Südafghanistan durch einen Angriff der Taliban. Laut Beobachtern muss Omars umstrittener Nachfolger Mansour nun auf dem Schlachtfeld Stärke zeigen. "Vom Dschihad zu sprechen verbindet, es stärkt den Kampfgeist. Mansour würde schwach wirken, wenn er zu Verhandlungen aufruft und ein Auseinanderbrechen der Bewegung riskiert", heißt es in einer Analyse des "Afghanistan Analysts Network".
Für den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani stellt die neue Angriffswelle ein gravierendes Problem dar. Er hatte sich ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt, um die Friedensgespräche in Gang zu bringen. Er will einen schnellen Erfolg und hat sich dafür dem Erbfeind der Afghanen, Pakistan, sehr stark angenähert. Dies geschah zum Missfallen der Bevölkerung, sagt Thomas Ruttig, Ko-Direktor des Afghanistan Analysts Network, zur "Wiener Zeitung". Ghani musste dafür viel Kritik einstecken, da Pakistan keinen guten Ruf in der afghanischen Öffentlichkeit hat. "Islamabad hat ja jahrzehntelang die Taliban unterstützt - auch bei solchen Terrorangriffen wie dieser Tage - und tut das wahrscheinlich immer noch."
Hatte Ghani trotz der vermehrten Anschläge in den vergangenen Monaten, die gleichzeitig mit den Bemühungen im Friedensprozess liefen, Ruhe bewahrt, so platzte ihm nach dem Dreifachanschlag in Kabul der Kragen. Sein Zorn traf Islamabad direkt: "Die vergangenen Tage haben gezeigt, dass die Trainingslager für Selbstmordattentäter sowie die Bombenfabriken, die zum Tod unserer Menschen führen, in Pakistan so aktiv wie früher sind", sagte er in einer TV-Ansprache.
Die Enttäuschung ist nun groß. "Präsident Ghani und andere hochrangige Sicherheitskräfte in Afghanistan haben gehofft, dass man mit Pakistan gut zusammenarbeiten kann", sagt der Vizesprecher des afghanischen Oberhauses, Mohammad Asif Sediqi, zur "Wiener Zeitung". "Aber wie wir jetzt sehen, sind sie nicht ehrlich in ihrem Umgang mit Afghanistan, im Kampf mit den Taliban."
Selbstkritik nach dem Platzen der Verhandlungen sucht man in Kabul und Islamabad vergebens. Dabei könnte man sich durchaus hinterfragen. Die Taliban wurden unter großem Druck der Pakistanis an den Verhandlungstisch gebracht. Islamabad hat den afghanischen Taliban in Pakistan im Frühjahr gedroht, am Friedensprozess teilzunehmen "oder den Konsequenzen in die Augen zu sehen", heißt es. Gleichzeitig habe man den Taliban versprochen, die Gespräche in Murree geheim zu halten, sagt Ruttig. Islamabad, das aber nach einer öffentlichen Bestätigung dürstete, nun konstruktiv mit Afghanistan zu arbeiten, machte das Treffen publik. "Dadurch hat man die Taliban vorgeführt und verärgert", sagt Ruttig. Kabul müsse auch lernen, die Taliban als eigenständigen Akteur zu behandeln, nicht als Marionette Pakistans.
Einen neuen Termin für die nächste Gesprächsrunde gibt es nicht. Am Donnerstag traf eine afghanische Sonderdelegation in Pakistan ein, geleitet von Außenminister Salahuddin Rabbani. Ein schneller Erfolg ist nun aber in weite Ferne gerückt. "Es wird einen längerfristigen Ansatz brauchen, die Taliban von der Notwendigkeit von Gesprächen zu überzeugen", sagt Ruttig. Leidtragender wird indes weiter die Zivilbevölkerung sein.